Flucht mit Hindernissen

2.6K 252 6
                                    

Der Abend rückte unaufhaltsam näher. Ich hatte mich dazu entschieden, ganz normal mit den anderen ins Bett zu gehen und dann möglichst leise abzuhauen, wenn sie hoffentlich alle schliefen. Das würde vielleicht auch den Werwolfgerüchten Abhilfe schaffen, wenn sie dachten, ich würde schlafen.
Ruhiges Atmen erfüllte den Schlafsaal. Voll angezogen lag ich unter meiner Decke, starrte den blauen Baldachin an und versuchte zwanghaft, nicht einzuschlafen. Mein Wecker zeigte halb elf. Die Sperrstunde war also schon angebrochen.

Leise schlug ich meine Bettdecke zurück. Nur das Rascheln klang in meinen Ohren schon wie ein Erumpent mit Blähungen. Die Dielen knarzten schwach unter meinen Schuhen, während ich zur Tür schlich. Aber ich hatte den Schlafsaal noch nicht einmal halb durchquert, als ich eine weitere Bettdecke rascheln hörte und mir kurz darauf gleißendes Licht ins Gesicht knallte. Ich stolperte zurück und fiel über einen Stuhl, der krachend und polternd mit mir zu Boden ging. So viel zu leise.
Über mir stand Helena, die weiterhin keine Anstalten machte, das Licht ihres Zauberstabs wenigstens etwas von meinem Gesicht abzuwenden. Mit schmerzendem Rücken rappelte ich mich wieder auf, aber leider mit mir auch der gesamte Schlafsaal.
„Wohin willst du denn, Wölfin?", fragte sie mich giftig.
Ich antwortete nicht, sondern versuchte mich einfach an ihr vorbei, aus der Tür zu schieben. Sie packte mein Handgelenk.
„Nicht so schnell! Willst du wieder raus und Regeln brechen?", knurrte sie.
Ich drehte meine Hand aus ihrem Griff, aber hinter ihr standen mittlerweile ihre beiden Freundinnen.
„Lass mich bitte einfach durch.", sagte ich leise und versucht, ihr nicht gleich alle Flüche auf den Hals zu jagen, die ich beherrschte.
„Dass du uns noch mehr Hauspunkte kostest und den Ruf von Ravenclaw weiter in den Keller katapultierst? Vergiss es!", fauchte Helena.
„Ich bin-" Eine Stimme hinter mir unterbrach mich.
„Helena. Was meinst du, was passiert, wenn sich ein Werwolf hier im Schlafsaal verwandeln würde?", fragte eine ruhige Stimme hinter mir. Marlene.
Der wütende Ausdruck auf Helenas Gesicht wandelte sich sehr schnell zu Panik.
„Ich werd dafür sorgen, dass du von der Schule fliegst, Freak!", fauchte sie, bevor sie den Weg freigab.
„Untersteh dich.", hörte ich Marlene noch knurren, bevor ich mich an Helena vorbei aus dem Schlafsaal schob.

Ich hastete die Treppen nach unten, durch die Gänge, auf der Hut vor Filch, durch die Tür zum Innenhof und von da aus nach draußen auf die Ländereien. Ich gab es nicht gerne zu, aber irgendwie konnte ich Helena verstehen. Ich hätte auch nicht unbedingt gerne in einem Schlafsaal mit einem Werwolf gepennt, aber, warum sie so einen Aufstand machen würde entzog sich meiner Kenntnis. Hoffentlich würde sie am Ende nicht zu Flitwick gehen und bei ihm petzen.
Den Zauberstab fest umklammert tauchte ich in die Dunkelheit des verbotenen Waldes ein. Draußen auf den Wiesen erhellte der Mond noch die Nacht, aber hier, unter den Bäumen, war es stockfinster. Über sämtliche Äste stolpernd und im Unterholz hängen bleibend, kämpfte ich mich bis zu der Buche, an der unsere Seilkonstruktion hing.
Mit heftig pochendem Herzen und gezücktem Zauberstab stand ich nun also hier. Und wartete. Es war ungewöhnlich ruhig. Keine Grillen waren zu hören. Keine kleinen Tiere huschten durch das Unterholz. Es war einfach nur dunkel und leise. Ab und zu ließ der Wind die kläglichen Reste der Blätter in den Bäumen rascheln, aber ansonsten war kein Laut zu hören. Nur das Geräusch meines pochenden Herzens füllte meine Ohren.

Aber als sich nach etwa einer halben Stunde nach wie vor nichts regte, kroch die Müdigkeit in meine Knochen. Um diese Uhrzeit würde ich normalerweise schlafen. Meine normale Routine zu verändern stresste mich, obwohl ich nicht einmal wusste warum.
Erschöpft lehnte ich mich an die Buche. Der Eisenring, der in meinen Rücken drückte, würde mich schon vom Schlafen abhalten. Nur einen kurzen Moment die Augen schließen. Nur ganz kurz. Nicht lange. Meine Gedanken wurden nebelig und wirr.

Das Knacken von Ästen weckte mich. Erschrocken schlug ich die Augen auf und versuchte die Dunkelheit um mich herum zu erfassen. Ich war am Baumstamm heruntergerutscht. Wie lange hatte ich schon geschlafen? Woher war das Knacken gekommen.
Etwas kam auf mich zu. Etwas großes Weißes, mit einem schimmernden, silbrigen Horn. Das Einhorn betrachtete mich aus respektvoller Entfernung. Nur langsam kam es näher und schnupperte an meiner ausgestreckten linken Hand. Mit der Rechten hielt ich meinen Zauberstab weiter so fest umklammert, dass ich befürchtete, ihn nie wieder loslassen zu können.
Die dunklen Augen des Einhorns betrachteten mich gleichzeitig besorgt und nervös. Meine Finger waren nur wenige Millimeter von den Nüstern des Einhorns entfernt, als sein Kopf wieder nach oben schnellte. Auch ich hatte es gehört. Das Peitschen von Zweigen und das schwere Pochen von Pfoten auf dem Boden.

Der Blick des Einhorns wanderte panisch zwischen der Lärmquelle und mir hin und her. Seine Körpersprache sagte sehr deutlich, dass ich mit ihm fliehen sollte, aber ich schüttelte den Kopf.
„Hau ab.", flüsterte ich. „Ich komm schon klar."
Langsam richtete ich mich auf. Das Einhorn warf mir einen letzten panischen Blick zu, bevor es mit langen Galoppsprüngen ins Unterholz verschwand.
Ich wandte mich den Pfotenschritten zu, die immer näher kamen.

Kelpie || HP/Rumtreiber FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt