„Ich habe keine Schwester"

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Wenige Tage später, am Dienstag den 29. November, um genau zu sein, kramte ich möglichst leise die kleine, in braunes Packpapier gewickelte Schachtel aus der obersten Schublade meiner Kommode und verzog mich ins Bad. Marlene räumte oft in meiner Kommode auf, aber sie wusste genau, dass sie von der obersten Schublade die Finger zu lassen hatte.
Ich legte die Schachtel auf einen der Badezimmerschränke und drehte das Wasser auf. Mit dem eiskalten Wasser aus dem Hahn wusch ich mir die Reste meiner Müdigkeit aus dem Gesicht. Es brannte auf meiner Haut, aber es tat gut.
Als ich gerade meine blau-bronzefarbene Krawatte zu einem ordentlichen Knoten band, schob sich ein blondes Diricawlnest durch die Tür. Marlene blinzelte mir verschlafen entgegen und rieb sich mit den Handballen durch die Augen.
„Guten Morgen, Schlafmütze.", begrüßte ich sie und klopfte ihr auf die Schulter.
„Morgen.", murmelte sie, halb im Gähnen.
„Na, gut geschlafen, du alter Sack?" Ich nahm das Päckchen vom Schrank.
Ihre Augen wanderten zu meiner Hand und dann wieder zu meinem Gesicht. „Freya, darüber haben wir doch geredet!", protestierte sie. „Wir schenken uns nichts zum Geburtstag!"
Ich lächelte milde. „Das haben wir ausgemacht, als wir elf waren. Du wirst heute 17. Alles Gute." Einen Moment schloss ich sie kurz, aber fest in die Arme. Das bekam ich noch hin.
Marlene schien ihren Protest aufgegeben zu haben und nahm mir das Päckchen ab, das ich ihr hinhielt. „Das wäre aber echt nicht nötig gewesen. Du musst nicht extra für mich Geld ausgeben.", murmelte sie, während sie das Papier abwickelte. Unter dem braunen Papier kam eine Schokofroschpackung zum Vorschein. „Schokolade ist immer gut!", grinste sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Mach auf. Ich hab keine bessere Schachtel gefunden. Remus hatte die noch übrig." Mit verwirrtem Gesichtsausdruck öffnete Marlene die violette Schachtel. „Es ist nicht viel.", fuhr ich fort, während sie das dünne, weiße Armband herausnahm. „Ist selbstgebastelt. Die Einhornhaare hab ich im Wald gesammelt und geflochten. Den Anhänger hab ich in der Winkelgasse auf dem Boden gefunden. Ich hoffe es ist trotzdem okay."
Marlene sah von dem Armband mit dem kleinen, silbernen Unendlichkeitsanhänger auf. In ihren Augen standen Tränen. „Ob das okay ist?", fragte sie mit bebender Stimme. „Freya, das ist wunderschön." Sie schloss mich ein weiteres Mal in die Arme. Ich spürte, wie sie leicht bebte, während sie versuchte ihre Tränen zurückzuhalten. Etwas unbeholfen strich ich ihr über den Rücken und versuchte den Niesreiz zu unterdrücken, den ihre, noch von der Nacht strubbeligen Haare auslösten.

Beim Frühstück landeten sage und schreibe acht Eulen um sie herum. Leider hatten sie nicht mehr so viel Platz um unseren Stammplatz herum, wie sie es noch vor ein paar Wochen gehabt hätten. Neben uns saßen jetzt auch noch Remus und Peter hier. Wenn man so früh beim Frühstück war, wie wir es meist waren, interessierte die Zuordnung der Tische zu ihren Häusern meist niemanden.
„Na, wie fühlt man sich so, als Erwachsene?", fragte Peter grinsend, während Marlene den Eulen ihre Briefe und Pakete abnahm.
„Total anders.", antwortete sie ironisch und nahm der letzten Eule den Brief aus dem Schnabel. „Ich fühl mich dreißig Jahre älter, mir tut alles weh. Die Knie, der Rücken." Die Eulen flatterten wieder von Dannen.
„Ja, so schaust du auch aus.", entgegnete Peter, wofür er eine Kopfnuss von ihr kassierte.

Anders als sonst mussten wir heute also nochmal nach oben in den Schlafsaal, um Marlenes gesammelte Geburtstagsgeschenke nach oben zu bringen. Seite an Seite mit meiner Freundin stieg ich also, drei dicke Bücher im Arm, die vertrauten Treppen zu unserem Schlafsaal nach oben, als eine Stimme meine Gedanken unterbrach.
„Freya!" Es war Idunas scharfe Stimme, die durch den recht leeren Korridor hallte.
Ohne einen Kommentar drückte ich Remus Marlenes Bücher in der Hand und drehte mich um. Meine Schwester kam die Treppe nach oben. Sie sah so hübsch aus, wie sie es immer tat. Die blonden Haare ordentlich in einem halben Pferdeschwanz. Das Hemd bis auf den letzten Knopf zugeknöpft und das Schülersprecherabzeichen glänzend im Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel. Die Schritte lang, kräftig und sicher. Kurz vor mir kam sie zum Stehen. Obwohl sie direkt vor mir stand, konnte sie doch auf mich hinabsehen. Nicht viel, nur um einen halben Kopf, aber sie war doch größer als ich. Ihre blauen Augen hätten Funken sprühen können.
„Ich muss mit dir reden!", fauchte sie. Die wenigen Schüler, die mit uns durch den Korridor liefen hatten inzwischen ihre eigenen Gespräche gestoppt.
Ich zuckte die Schultern, wich aber ihrem Blick aus. „Bitte."
„Kannst du dich eigentlich nicht ein Mal in deinem Leben, wie eine normale Hexe benehmen!?", fuhr sie mich an. Was hatte ich denn bitte jetzt schon wieder falsch gemacht? Ich antwortete nicht, sondern hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet. „Erst diese Werwolfgerüchte und jetzt fängst du an, dich mit diesen..." Ihr Blick wanderte einen Moment über meine Schulter und zu Peter und Remus, die gemeinsam mit Marlene hinter mir standen. „Rumtreibern" Sie spuckte das Wort fast aus, „Abzugeben!"
Ich zuckte nur die Schultern. Was ging sie das an, wen ich zu meinen Freunden zählte? „Und?", fragte ich leise.
„Und?! Willst du unseren Familienruf komplett gegen die Wand fahren!?" Mittlerweile kam sie mir vor, wie ein aggressiv gewordener Nundu. „Du kennst den Ruf von denen! Vor allem Black und Potter! Wenn du mit einem von denen was anfängst, dann-"
„Was dann?!", unterbrach ich sie. „Welchen Familienruf? Du meinst wohl deinen Ruf, als beste Hexe des Schlosses?" Erst jetzt fiel mir auf, dass ihre Villa-Kunterbunt-Truppe fehlte. Vielleicht wollte sie nicht, dass sie mitbekamen, wie die große tolle Iduna ihre Schwester zusammenstauchte.
„Du hast doch keine Ahnung wie das ist, gut in der Schule zu sein!", fauchte sie. „Freunde zu haben! Da hast du doch keine Ahnung von!"
Die Wut in mir begann leise zu brodeln. Ich war kein Mensch, den man leicht aus der Ruhe brachte. All die Jahre, die die Rumtreiber es versucht hatte, hatten sie es nie geschafft, aber auch ich hatte meine Grenzen. Und über eine dieser Grenzen war Iduna gerade im vollen Galopp darübergerannt.
„Weißt du wovon du keine Ahnung hast?!", fauchte ich sie an. „Wie man eine gute Schwester ist! Du redest nie mit mir! Du tust so, als würde es mich nicht geben, es sei denn, ich ruiniere DEINEN Ruf, DEINE Noten, DEINE Freunde! Es sei denn, du willst mich anschreien, dann bin ich als Sündenbockschwester gut genug, oder was?!" Den letzten Satz schrie ich fast.
„Ich habe keine Schwester." Iduna schrie nicht mehr. Ihre Worte waren leise, aber sie trafen mich, wie ein rostiger Dolch, der sich in mein Herz bohrte. Wie heißes Gift, dass sich durch meine Adern ausbreitete und sie glühen ließ. Den Kloß in meinem Hals verzweifelt herunterschluckend rannte ich. Treppen nach unten, durch Korridore, egal wo hin. Einfach nur weg.

Kelpie || HP/Rumtreiber FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt