Kapitel 19

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Erwartungsvoll schaue ich Jonathan an, welcher mir zu lächelte und dabei sein Handy aus der Tasche holte. Was hatte er nur vor? Ich sah, wie er irgendetwas auf seinem Handy eintippte, bevor er es sich dann an sein Ohr hielt. Ein paar Sekunden passierte gar nichts, doch dann schien jemand ranzugehen.

„Hallo Mama, du ich hab eine Frage wegen der Herbstferien."
„Ja natürlich will ich noch mitkommen was denkst du denn?"
„Ich bin nicht aggressiv, ach egal, lass uns jetzt nicht deswegen streiten. Ich wollte nur Fragen, ob ich vielleicht einen Freund mitbringen darf, seine Eltern können ihn während der Herbstferien leider nicht Zuhause empfangen."
„Echt, wirklich? Danke Mama, dann bis nächste Woche. Tschüss"

Während des Telefonats wurden meine Augen immer größer. Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein. Hatte er gerade ernsthaft seine Mutter gefragt, ob ich bei ihnen mit in den Urlaub fahren darf? Ungläubig, aber auch dankbar guckte ich ihn und sah, dass er mich mit einem breiten Lächeln ansah. „Habe ich zumindest dieses Problem gelöst?", fragte er. „Ja, danke", meinte ich nickend und viel ihm um den Hals.

Aus irgendeinem Grund ließ er mich für einen kurzen Moment mit seinem Lächeln alles um mich herum vergessen und so kamen die Gedanken an meine Eltern erst kurze Zeit später wieder. Wieso musste ich mir denn auch alles kaputt machen? Ich hatte doch alles was ich wollte. Ich war zufrieden mit meinem Leben gewesen. Obwohl war ich das denn? Damals auf jeden Fall, doch wenn ich jetzt so drüber nachdachte war ich hier eigentlich ganz zufrieden. Ich meine klar hätte ich auch gerne mein 'altes' Leben zurück, so wie es war, aber andererseits hätte ich dann auch nie Jonathan getroffen und nie gemerkt, wie wichtig es ist jemanden zu haben, der einen bedingungslos akzeptiert und für einen da ist.

Dieses Gefühl hatte ich in Köln nie gehabt. Klar war Matteo ein sehr guter Freund gewesen und er war auch jetzt immer noch sehr wichtig für mich, aber so wie mit Jonathan war es nie gewesen. Mit ihm kann ich mich auch über ernste Dinge unterhalten und ich durfte ich sein, bei ihm war es egal, welche Sexualität ich habe oder nicht, oder ob ich schon mal "ein Mädchen gehabt habe". Es kam auf die inneren Werte an. Er war für mich in Situationen wie dieser da und ich für ihn und das ohne zu Fragen worum es ging. Matteo hätte mich so lange gelöchert bis ich ihm geantwortet hätte und gemeint, dass ich nicht weinen sollte, weil das nur Mädchen machen würden.

Aber er akzeptierte auch das Nein, wenn ich nicht über den Überfall reden möchte. Bis heute habe ich kaum ein Wort darüber verloren. Das einzige was er weiß, ist dass ich etwas Schlechtes getan habe, aber das scheint ihn nicht zu stören. Er hat es mir noch nie vorgeworfen oder mich gedrängt ihm zu sagen was es ist. Er akzeptiert mein Schweigen und behandelt mich auch nicht anders als die anderen. Obwohl, vielleicht doch, aber eher im positiven.

*

Ich wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, aber irgendwann richtete ich mich auf, da die Position in der wir uns befanden relativ unbequem war. Ich lächelte Jonathan vorsichtig an, welcher das Lächeln sofort erwiderte. „Wollen wir das Abendessen einfach auslassen?", fragte er, da er zu merken schien, dass ich zu erschöpft bin um noch unter Menschen zu gehen. Ich nickte. „Aber wenn du großen Hunger hast, dann kannst du ruhig gehen", meinte ich, ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, wenn er nachher vor Hunger nicht schlafen kann. Jonathan schüttelte seinen Kopf: „Nein, nein, alles gut." „Können wir uns hinlegen?", fragte ich ihn. Ich war etwas erschöpft von dem ganzen Weinen und wollte mich ein wenig entspannen, denn zum Schlafen gehen war es noch ein wenig zu früh.

Sofort ließ er sich nach hinten fallen und machte es sich auf meinem Kissen bequem. Ich folgte seinem Beispiel und ließ mich neben ihm nieder. Für einen kurzen Moment sah Jonathan so aus, als würde er über etwas nachdenken, dann schaute er mich an und klopfte auf seinen Bauch.

„Möchtest du?", fragend schaute er mich an. Kurz überlegte ich. Ich hatte ihn doch schon öfters umarmt, da sollte ich doch auch mit ihm kuscheln dürfen oder? Ich meine, das dürfen Freunde doch, oder? Kurz zweifelte ich an meiner Frage, doch dann entschied ich mich es einfach zu tun. Ich hatte ja nichts zu verlieren und die Gefühle, die ich in der Nähe von Jonathan hatte genoss ich viel zu sehr.

Ich legte meinen Kopf auf seinen Bauch und schloss für einen kurzen Moment meine Augen, während ich seinen Duft einsog. Er lag relativ ruhig unter mir, doch ich konnte jeden seiner Atemzüge spüren und irgendwie entspannte mich es sogar. So nah wie ihm war ich noch nie einer Person gewesen, zumindest nicht auf so lange Zeit, doch es fühlte sich gut an. „Kannst du mir etwas erzählen?", fragte ich ihn leise. „Was denn?" „Irgendwas, was dir gerade so einfällt." „Ok, ähm...Keine Ahnung... Ich könnte dir ein wenig über das Haus erzählen, wo wir in den Ferien hinfahren. Also nur wenn du möchtest."

Lächelnd nickte ich, ich mochte es ihm einfach zu zuhören. Seine Stimme hatte irgendwie eine beruhigende Wirkung auf mich. „Ok, wo fange ich an? Also als meine Schwester und ich noch jünger waren, da sind wir jedes Jahr in das Ferienhaus gefahren. Es war perfekt für uns. Meine Eltern konnten ihren Geschäften nachgehen, während wir den ganzen Tag am Strand waren und irgendwelche Strandburgen gebaut haben. Und wenn es Abend wurde haben meine Schwester und ich verstecken gespielt. Wie du dir vielleicht denken kannst, haben meine Eltern einiges an Geld und so ist das Haus wohl eher eine Villa und der Strand ist privat. Aber als Kind denkt man darüber ja nicht so nach. Unser Motto war immer nur umso größer das Haus, umso mehr Verstecke die es zu entdecken galt galt. Doch desto älter wir wurden, desto seltener wurde diese Unbeschwertheit. Meine Schwester war plötzlich nur noch auf die perfekte Bräune aus und hatte keine Lust mehr mit mir im Sand zu spielen und unsere Eltern hielten uns dann für alt genug, um sie auf ihre dämlichen Veranstaltungen zu begleiten. Wir mussten die Vorzeigefamilie spielen und ich habe es gehasst, aber das kennst du vermutlich auch." Er hörte auf zu reden und seufzte. Natürlich kenne ich das. Meine Kindheit hatte dasselbe Ende gehabt. 

Während der ganzen Zeit hatte ich einfach nur ruhig dagelegen, genauso wie er auch. Doch nach kurzer Zeit hatte er angefangen mir mit seiner Hand langsam durch die Haare zu streichen. Erst fand ich es seltsam und war kurz davor gewesen ihn davon abzuhalten, doch irgendwie fand ich es auch angenehm und es beruhigte mich, was ich im Moment auch brauchte. Also warum nicht? Das einzige, was dagegen stimmte war meine nervige innere Stimme, die meinte mich belehren zu müssen, indem sie mir mitteilte, dass so wie wir miteinander umgingen nicht unbedingt das ist, was ich in Freundschaften gewöhnt war, oder je zuvor gewollt hatte. Doch das ignoriert ich gekonnt.
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Hey,

Frohe Ostern, an alle die es feiern :)

Ich hoffe ihr könnt euren Sonntag genießen und habt vielleicht ein wenig mehr Glück mit der Sonne als ich :)

Bis nächste Woche,

eure Lesekatze  

Auch wenn der Weg nicht immer leicht istWo Geschichten leben. Entdecke jetzt