Ich will Dich!

Hier ist Chris aufgewachsen?

Ich liege in meinem Bett und denke nach. Damals, als ich Chris Bruder das erste Mal gesehen habe, hat Chris mir von seiner Vergangenheit erzählt. Widerwillig, aber er hat. Weiter darüber nachgedacht, habe ich nicht, doch jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo es mich einholt.

Im Prinzip hat Chris sich im Leben immer alleine durchschlagen müssen... Hatte er eine Bezugsperson? Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben und das macht mich wehmütig. Chris tut mir leid und ich wünsche niemandem, dass er seine Eltern so früh verliert. Natürlich weiß er nicht, wie sie als Mutter gewesen wär... oder doch? Hat er Erinnerungsstücke an sie? Hat er irgendetwas, womit er nachvollziehen kann, wie seine Mutter war? All das würde ich gerne herausfinden, doch ich will nicht wieder zu Chris laufen, denn wir haben erst gestern gesprochen. Für einen Tag kann ich die Illusion aufrechterhalten, dass ich nicht mehr in seiner Gegend auftauche. Längerfristig wird das nichts.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Fragen stelle ich mir. Hat der Vater jemals versucht, Kontakt zu Chris aufzubauen? Hat er sich entschuldigt oder sowas? Welcher Vater lässt sein Kind in Stich? Oder seine Frau? Sie ist gestorben... Wusste sie es? Hat sie Chris das Leben geschenkt, mit dem Wissen, dass sie es aufgeben muss? Ich will mir nicht vorstellen, wie Chris sich fühlen muss, wenn es so wäre.

Manchmal beschwere ich mich über meine Eltern, doch im Grunde habe ich es sehr gut getroffen. Ich denke, ich kenne Chris schon sehr gut, doch dann tauchen da immer mehr Fragen auf und ich erkenne, dass ich ihn fast gar nicht kenne. Was macht er privat? Ist er immer nur in seiner Wohnung? Hat er Freunde oder reichen die unangemeldeten Besuche seines Bruders und die furchterregenden Typen vor den Häusern? Gibt es weibliche Freunde? Außer Lea.

Er hat mir erzählt, er wär im Waisenhaus aufgewachsen... Wie lange war er dort? Hatte er dort jemanden, mit dem er reden konnte? Wie ein typischer Einzelgänger wirkt er nicht... oder nicht mehr. Vielleicht schätze ich ihn auch einfach falsch ein.

Ein Baby kann sich nicht selber großziehen. Das müssen kompetente Leute machen und ich will wissen, wer seine Bezugsperson war, wenn er denn eine hatte. Chris ist immer so verschwiegen, deshalb muss ich das selber machen. Papas Methode ging mir immer auf den Sack, aber ich muss es wissen.

Viel Zeit lasse ich nicht verstreichen und gehe in Papas Büro. Heute ist Sonntag, das heißt, er sollte nicht da sein. Natürlich könnte ich Pech haben und Papa ist wieder ein Workaholic, aber das passiert nicht. Das Büro ist nicht abgeschlossen.

Da ich weiß, wo ich suchen muss, dauert es nicht lange und ich habe Chris Akte vor mir.

Chris Schwarz.

Das suche ich. Anders als damals, finde ich keine mehr von Jonas. Die würde mich auch nicht mehr interessieren. Mit dem bin ich durch. Chris bekommt meine volle Aufmerksamkeit.

Die Akte ist sehr lang und ich muss mich erstmal zurechtfinden. Hier sind einige Sachen drinnen. Es gibt Bilder von Chris, als er ein Teenager war, als er noch ein kleiner Junge war und aktuelle Bilder, die er wohl nicht selber gemacht hat. Ich fasse nicht, wie krass Papa seine Angestellten kontrolliert.

Einige Bilder zeigen auch die Gruppe, die ich nicht nur gestern beobachtet habe. Auf den Bildern sieht man schon deutlicher, was herumgegeben wird. Es ist eine Tüte und auf einem anderen Bild, sehe ich eindeutig Scheine. Ich muss kein Experte sein, um zu wissen, dass dort mit Drogen gehandelt wird. Das hätte ich mir auch denken können. Man will ja nicht direkt urteilen, doch es war schon sehr auffällig. Dass die Polizei noch nicht darauf gekommen ist...

Egal. Anscheinend macht Chris da nicht mit. Ansonsten hätte mein Vater ihn wohl kaum eingestellt. Es gibt auch Bilder von Chris Haustür. Wie nett, dass dort nicht eingebrochen wurde und jedes Zimmer einzeln durchsucht wurde.