KAPITEL 24

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Noah

„Okay, sprechen wir doch erstmal über die negativen Aspekte.", sage ich zu mir selbst, während ich durch mein Zimmer laufe, wie schon den ganzen Nachmittag. Heute Mittag sind wir wieder zu Hause angekommen und haben nicht noch einmal darüber geredet. Außer den letzten Satz, „Lass dir Zeit und denk darüber nach." Toll. Wie lange habe ich denn jetzt Zeit? Was soll ich denn machen? Wie soll ich mich entscheiden? Ich kann förmlich die Rauchschwaden, die aus meinem Kopf dringen, sehen. „Also... erstens, er wäre noch weiterhin mit Betty zusammen, was ich wohl als schlimmsten Aspekt ansehe. Zweitens, ich könnte meine Sehnsucht nicht öffentlich bekunden, ihn nie offensichtlich berühren. Drittens, ihn nur nah kommen, wenn wir alleine sind. Viertens, er würde nie öffentlich zu mir stehen. Fünftens, und damit der schlimmste Gedanke, ich wäre vielleicht nur ein Experiment für ihn."
Er hat nie gesagt, dass er mehr für mich empfindet, nur, dass er das, was wir hatten, öfter will. Und was hatten wir? Sex. Natürlich war es für mich so unfassbar mehr, doch sieht er das auch so? Was war das überhaupt für ihn? All die Monate hat er mir nicht auch nur ein Zeichen gegeben, dass er ähnlich über mich denkt, wie ich über ihn. Außer... im Kino. Bis heute ist es mir ein Rätsel was dort mit ihm war. Warum er dies getan hat und mich danach so verletzt hat. Bis gestern dachte ich unterbewusst, dass er geahnt hat, dass ich mich zum anderen Geschlecht hingezogen fühle und es damit testen wollte. Doch warum schläft er mit mir und dann auch noch so voller Gefühle? Beinahe wäre ich in all der Leidenschaft ertrunken. „Und die guten Aspekte?", murmle ich vor mich hin. Schwer schlucke ich und lasse mich auf mein weiches Bett fallen. „Er wäre mein." Endlich kann ich meine Gefühle zu ihm ausleben, ihn so berühren, wie ich es immer wollte. Ihm so nahe sein, wie ich es brauche und vor allem bin ich jetzt schon süchtig. Ich will alles von ihm, so wie letzte Nacht. Noch nie habe ich so empfunden. Es ist kaum zu beschreiben. Noch immer kribbelt meine Haut, wenn ich an seine Berührungen denke. Ich trachte schon nach der nächsten Runde. Oh Gott. Unangenehm richte ich meinen Schritt, der unverhofft härter wird. Seufzend reibe ich mir mein Gesicht und schnaufe verstimmt. Ich will aber nicht, dass er weiterhin mit Betty schläft, sie küsst und so berührt, wie er es mit mir tut. Abgesehen, dass es mich anwidert und ich Betty nicht leiden kann, könnte ich das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Er hat sie mit mir betrogen. Und seine Affäre oder was auch immer, will ich nun wirklich nicht sein. Dieser Gedanke bereitet mir so viel Übelkeit, dass ich beruhigend über meinen Bauch streichen muss. Oh Jordan... wo ziehst du mich da rein? Wenn das alles rauskommt, bin ich der Böse in diesem Spiel. Ist es das? Nur ein Spiel... Es würde mir das Herz brechen, wenn er das als solches empfindet. Doch ich kenne ihn. Jordan liebt mich und vielleicht auch irgendwann so wie ich ihn liebe.
Wieder plagen mich starke Kopfschmerzen, die gefühlt von Woche zu Woche, von Problem zu Problem schlimmer werden. Tastend greife ich nach meinem Glas Wasser und trinke es vollständig aus. Am liebsten würde ich eine Tablette nehmen, doch, wenn ich meine Mom nach einer frage, macht sie sich nur wieder riesige Sorgen und schickt mich im schlimmsten Fall sogar zum Arzt, doch so schlimm ist es auch wieder nicht. Also lege ich mich danach einfach wieder in meine Kissen und schließe die Augen. Schlaf finde ich jedoch keinen, viel zu viele Fragen plagen meinen Kopf. „Siri, schicke Jordan eine Nachricht.", trage ich meiner Sprachassistentin auf und diktiere ihr sie dann.

Jordan

Ich habe Fragen.

Leider kommt auch nach zehn Minuten immer noch keine Antwort. Wahrscheinlich ist er einfach beschäftigt oder er schläft, immerhin ist es bereits mitten in der Nacht. Jetzt wo ich so darüber nach denke, wäre es vielleicht auch besser zu schlafen. Wir haben morgen Schule und schreiben sogar eine Klausur, auf die ich mich schon so lange vorbereitet habe.
Überrascht setze ich mich jedoch auf, als ich ein schwaches Poltern vor meinem Fenster wahrnehme, ehe es hochgeschoben wird. Mir ist sofort klar, dass dies wohl kein Einbrecher ist, denn ein laut fluchender Jordan fällt mehr in mein Zimmer, als das er steigt. Ich hätte nicht gedacht, dass er vorbei kommt.
„Hi.", sage ich schlicht und rutsche zur Seite, als ich höre, wie er seine Schuhe auszieht. „Kann ich bei dir pennen?", fragt er dann und überrascht mich, da seine Stimme müde und ausgelaugt klingt. Kam er vielleicht nur zufällig und hat meine Nachricht noch gar nicht gelesen? „Klar.", demonstrativ hebe ich meine Decke an. „Danke Kumpel."
Ist es nicht merkwürdig, dass er mich noch immer so nennet? Soweit ich weiß, schläft man nicht mit seinem Kumpel, aber er nennt mich schon immer so, vielleicht macht er sich darüber auch gerade kaum Gedanken. Ich vernehme, wie er noch seine Jeans auszieht und dann unter die Decke krabbelt. Erschrocken keuche ich auf, als er mich an sich zieht und ich seine eiskalte nackte Haut an meiner spüre. „Du bist ja eiskalt!", sage ich besorgt und reibe über seinen Arm, während er seinen Kopf an meinem Hals vergräbt. Es ist unfassbar ungewohnt, dass er meine Nähe von sich aus sucht. So lange habe ich mir das gewünscht, doch scheint es ihm offensichtlich nicht gut zu gehen. „Jordan?", frage ich nach, da er noch immer nichts darauf erwidert. „Ist etwas passiert? Du fühlst dich an, als würdest du schon Stunden durch die regnerische Kälte laufen." „So war es auch." Ich kann ihn nur dumpf wahrnehmen. Die Sorge steigt nun in ganz andere Sphären und ich spreche für mich den einzig verständlichen Grund an. „Hat dein Dad irgendwas getan?", flüstere ich vorsichtig. Er krampft sich beinahe sofort zusammen und presst mich näher an sich. Ich komme mir vor wie ein Teddy, doch es könnte mich in diesem Moment nicht weniger stören. Vorsichtig fahre ich mit meinen Händen über seinen Körper, suche nach Verletzungen und finde sie auch ziemlich schnell. Als meine Hände seinen Rücken berühren zuckt er wieder zusammen, doch er lässt mich gewähren. Überall spüre ich kleine Unebenheiten und mir kommt eine dunkle Ahnung, was er ihm angetan hat. Wir reden nie über seine Verletzungen. Manchmal bekomme ich es mit, selten lässt er sie mich spüren, aber reden wollte er nie darüber und es macht mir Sorgen, dass er sich dagegen nicht wehrt. Er könnte zur Polizei, seinen Vater anzeigen, dem ein Ende setzen, doch warum auch immer, tut er das nie. Es verletzt mich selber und ich leide mit ihm, ihn so voller Schmerzen an mir zu spüren. Instinktiv drücke ich ihn nur noch näher an mich und streiche ihm beruhigend durch sein Haar. Ich würde ihn gerne fragen, was sein Vater ihm angetan hat, ob ich mit der Vermutung richtig liege und die Schwellungen an seinem Rücken von einem Gürtel stammen. So gerne würde ich ihm helfen wollen, ihm diese Qual nehmen. Meine Mutter würde sicherlich keine Sekunde zögern und ihn bei uns aufnehmen. Immerhin ist er bereits achtzehn und ich werde es in wenigen Monaten auch. Er könnte sich dagegen währen, doch er tut es nicht. Oh Jordan, was kann ich nur für dich tun, damit du aus den Fängen deines Vaters entkommen kannst? All die Dinge, nach den er sich richten muss, weil sie sein konservativer, rassistischer und gewalttätiger Vater verlangt. So jemand wie er, hat es nicht verdient einen Sohn zu haben, der so wundervoll ist. In dem Moment wird mir klar, dass Jordan meine Nachricht wahrscheinlich wirklich nicht gelesen hat und er nur zu mir gekommen ist, weil er sich hier sicher fühlt. Und... wahrscheinlich war er nur so lange draußen, damit er mir meinen Freiraum gibt, den er mir heute noch im Auto zugesprochen hat, dass ich in Ruhe über alles nachdenken kann. Es rührt mich, dass er es anscheinend nicht mehr ausgehalten hat und ich nehme ihn das auch auf keinen Fall übel. Wie könnte ich? Nichts würde ich lieber tun, als ihm immer zu Seite zu stehen, da er es auch immer für mich tut. Fest pressen wir uns aneinander, schenken uns Wärme und ich ihm die Liebe, die er verdient. Wahrscheinlich war es der Moment, an dem es mir klar ist, dass ich niemals auf ihn verzichten könnte, da ich meine Liebe nicht einfach untergraben kann. Ich habe Bedingungen, doch die werde ich mit ihm jetzt nicht mehr besprechen, nicht heute. Denn jetzt brauchen wir uns einfach, denn im Endeffekt ist er mein bester Freund.

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