KAPITEL 48

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Song Empfehlung:
Fade von Lewis Capaldi

Jordan

„Jordan??", überrascht sieht mich Betty an. Meine Haare liegen nass im Gesicht, weil es anscheinend gar nicht aufhören will zu regnen und um ehrlich zu sein, ein Regenschirm besitze ich nicht. Meine Hände sind in den Jackentaschen meiner College Jacke vergraben und mein Blick liegt angestrengt auf Noah. Seine Wangen sind leicht errötet und seine wundervollen, prächtigen Locken, liegen kreuz und quer, doch fallen mir sehr wohl seine Augenringe auf. Natürlich ist mir bis irgendwohin klar, dass das alles nicht einfach für Noah ist und das ich einfach gegangen bin, ihn wohl sehr verletzt haben muss. Ich habe aber bemerkt, dass ich diese Zeit brauchte. Ich brauchte Zeit, um damit klar zu kommen, meine Gedanken zu sortieren und zu fokussieren. Seine hübschen Augen weiten sich und beinahe wäre ihm sein Buch aus den Händen gefallen, hätte ich es nicht noch rechtzeitig aufgefangen. Vorsichtig lege ich es in seinen Spind und mir weht sein Duft entgegen. „Noah, wir müssen reden.", sage ich deutlich zu ihm und kann die Härte in meiner Stimme kaum zurückhalten. Mit großen, niedlichen Augen sieht er mich an. „O-Okay, ja klar.", stottert er und schließt seinen Spind. „Jordan ich-...", wollte mich Betty erneut unterbrechen, doch ich hebe die Hand. „Nicht jetzt.", meine ich beinahe gefühlskalt, weil ich dafür gerade einfach keinen Nerv habe. An der Schulter führe ich Noah durch den Flur, vorbei an den dumm gaffenden Mitschülern, raus auf den Hof, der sich langsam zu leeren beginnt, da bald der Unterricht anfängt. Unter dem Dachvorsprung, der uns vor dem Regen schützt, bleiben wir stehen und ich stelle mich mit verschränkten Armen vor ihn und betrachte ihn, wie er betreten auf den Boden sieht. Es vergehen bestimmt Minuten, bis wir die Schulklingel hören, dass der Unterricht anfängt und er zusammenzuckt. „Ich... ich weiß nicht was ich sagen soll.", beginnt er und ich nicke, mehr für mich selbst, da er es eh nicht sieht. „Warum hast du dich gegen die Operation entschieden?", will ich wissen und sofort ruckt sein Kopf überrascht hoch. „Wo-... Woher weißt du das?" Ich seufze tief und streiche mir über meine Augen, die vor Müdigkeit gerötet sind, da ich in den letzten Tagen kaum geschlafen habe. „Nach dem du mit Hayley zur Schule gefahren bist, habe ich mit deiner Mom geredet.", erzähle ich ihm wage, da ich will, dass er es mir sagt, auch, wenn es seine Mom schon getan hat. Sie war wirklich erleichtert zu sehen, dass es mir gut geht, doch ich habe ziemlich schnell das Thema auf Noah gelenkt und sie hat es mir erzählt. Alles. Alles was sie weiß. Und ihre Tränen dabei zu sehen, war wirklich schmerzhaft, sowie der traurige Blick seines Dad's, der ihre Schulter währenddessen getätschelt hat, hat mir das Herz gebrochen. „Oh...", macht er leise und sieht wieder auf den Boden, während er nervös seine Hände knetet. „Hat sie dir auch gesagt wie hoch die Chance ist, dass ich dabei sterbe?" „Aber es ist auch deine einzige Überlebenschance!", entkommt es mir etwas lauter als beabsichtigt. Er schweigt einige Zeit, scheint zu überlegen, was oder eher wie er es sagen soll. Vorsichtig bewegt er sich auf mich zu, so dass ich ihm direkt in die Augen sehen kann. Auch er hebt seinen Kopf. „Mal angenommen...", er schluckt hart. „Ich würde es überleben... Du weißt, wie stark die Chemo das letzte Mal an meinen Kräften gezerrt hat. Ich weiß nicht...", niedergeschlagen senkt er wieder den Blick. „Ich weiß einfach nicht, ob ich das noch einmal durchstehe." „Aber du hast mich.", entkommt es mir und reflexartig greife ich seine Hand. „Ich bin einfach nicht bereit, dass unsere Geschichte nur noch Monate bekommt. Ich bin nicht dazu bereit, dich zu verlieren Noah. Nicht ohne, dass du, dass wir gekämpft haben." Tränen laufen über seine Wange, die ich sofort mit meinem Daumen wegwische. „Ich liebe dich.", flüstere ich, als er sich mit geschlossenen Augen in meine Hand lehnt. Sofort öffnen sich seine Augen wieder und Angst steht ganz groß in ihnen geschrieben. „Jordan...", will er beginnen, doch ich unterbreche ihn. „Lass uns kämpfen Noah, bitte gib uns nicht so einfach auf.", flehe ich ihn beinahe schon an. „I-Ich habe Angst." Fest nehme ich ihn in meine Arme, presse seinen zierlichen Körper an meinen und vergrabe meine große Hand in seinen sanften Locken. „Ich auch. Ich auch...", sein Schluchzen hallt in mir wieder und ich schlinge nur fester meine Arme um ihn. Ich muss für ihn kämpfen. Für uns. Denn ich würde es nicht überleben ihn zu verlieren.

~

Es ist nur zu hören, wie der prasselnde Regen auf mein Autodach prallt. Wir beide sind tief in unseren Gedanken versunken, die wohl trotzdem den selben Gang einnehmen. Fest habe ich meinem Arm um ihn geschlossen, während er auf meinem Schoß sitzt und ich einfach nur nach draußen starre. Nach draußen, in die graue, kühle Welt, während die herzerwärmenste bei mir ist. Tief vergrabe ich meine Nase in seinem Haar und lasse meine Sinne von seinem Duft benebeln. „Ich liebe dich auch.", entkommt es plötzlich seinen Lippen und ich sehe in seinen gedankenversunkenen Blick. Sanft setze ich Küsse auf seine Wange, rüber zu seiner Nase und runter auf seinen Hals. Auch, wenn es kaum möglich ist, presse ich ihn noch näher an mich, weil ich Angst habe, dass er aus meinen Fingern gleitet. Ich habe so schreckliche Angst ihn zu verlieren. Uns war es egal, dass wir heute die Schule geschwänzt haben. Es konnte für mich nicht uninteressanter sein. Denn jetzt, wo ich die Wahrheit kenne, ist mir jede Sekunde, die ich mit Noah verbringe, tausendmal kostbarer als vorher. Weil mir vor Augen geführt wurde, dass jede, unsere letzte sein könnte. Was für ein unglaublich starker Mensch muss Noah sein, dies alles zu verkraften und damit leben zu können? Ich verstehe einfach nicht, wie eine so wundervolle Person, mit so unglaublich viel Herz und einer so reinen Seele, so bestraft werden kann. Noah ist mit Abstand die bezauberndste Person, mit der ich jemals das Glück hatte Bekanntschaft zu machen. Manchmal frage ich mich, womit ich ihn überhaupt verdient habe.  Ich wünschte, ich könnte ihm den Schmerz nehmen, ich wünschte... ich wünschte, es würde mich treffen und nicht ihn. Ich wünschte, dass er die Möglichkeit hat, ein erfülltes und wundervolles Leben zu leben. Wenn es jemand verdient hat, dann ist es Noah. Am liebsten würde ich jemanden verfluchen, die Schuld geben und ihn fragen, wie er ihm das nur antun kann. Wie man... wie man sowas einem Menschen antun kann. Zum wiederholten Male? Und diesmal endgültig? Nein, ich kann das einfach nicht zulassen. Auch, wenn ich vielleicht egoistisch entscheide, bin ich nicht bereit ihn gehen zu lassen. Denn ich weiß, dass ich ohne ihn nicht leben kann. Es wäre, als würde man mir meine Lebensenergie, mein Herz, meine verdammte Seele rausreißen. Ohne ihn wäre ich eine Hülle und ich weiß nicht, ob ich es verkraften könnte, es überleben... könnte. Nicht, wenn ich die Macht hätte, wieder mit ihm zusammen zu sein. Ich will nicht so denken, weswegen ich auch schmerzvoll die Augen schließe und mit meiner Nase über seine Ohrmuschel streiche. „Gehst du mit mir zum Herbstball am Samstag?", fragt er mich leise, fast schon schüchtern. „Der Herbstball?", verwirrt runzle ich die Stirn. „Du willst da wirklich hin?" „Ähm... naja, ja schon. Aber, wenn du das nicht möchtest ist das okay. Oder wir gehen als Freunde, das wäre auch okay. Oder wir lassen es vielleicht besser.", gibt er schnell und nervös von sich. Ein Lachen entweicht mir. „Natürlich gehe ich mit dir auf den Ball, Liebling.", flüstere ich grinsend in sein Ohr und ich sehe, wie sein Gesicht anfängt zu strahlen. Als ob es mich jetzt noch kümmern würde, was die anderen von mir denken. Selbst das College, was mir einst so unglaublich wichtig war, kommt mir jetzt total banal vor. Alles was ich jetzt noch will und für was ich kämpfe, ist Noah. Er ist das einzige, was mich jetzt noch interessiert. Er ist das einzige, was ich wirklich, von ganzen Herzen liebe. Nein, ich bin definitiv nicht bereit ihn aufzugeben. Niemals.

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