Kapitel 5

75 4 5
                                    

Oh.

„Also doch." Florian warf mir einen vielsagenden Blick zu, den ich dieses Mal nicht mit einem Augenverdrehen abtun konnte. Ich war viel zu beschäftigt damit, zu verarbeiten, dass Nicholas Engel wusste, was diese Markierungen bedeuteten. Aber wenn er wirklich der Täter war, würde er das doch nicht so einfach zugeben. Oder? Vielleicht war Florian im Recht, ein bisschen zumindest, vielleicht war gar nicht er unprofessionell, indem er Nicholas Engel verdächtigte, sondern ich, weil ich genau das nicht tat. Bis jetzt. „Also hast du Amelie doch umgebracht."

„Nein!" Nicholas schüttelte energisch den Kopf. „Nein, aber ich..." Er schob die Karte zu mir zurück. „Ich erkenne ein Mühlefeld, wenn ich eins sehe."

Ich runzelte die Stirn und griff nach dem Foto. Verdammt, natürlich! „Wieso haben wir das nicht erkannt?", murmelte ich, während ich mir am liebsten mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen hätte. Ich hätte erkennen müssen, was die Linien und Punkte bedeuteten. Vor allem vor dem Hintergrund der Nachricht, der Aufforderung zum Spiel. Immerhin war auch Florian nicht darauf gekommen – dass wir beide auf dem Schlauch gestanden hatten, war zwar eigentlich nicht gut für unsere Ermittlungen, beruhigte mich persönlich aber doch ein wenig.

Allerdings war Nicholas Engel auf Anhieb darauf gekommen, was das rote Muster auf der Stadtkarte bedeutete. Ohne etwas über die Nachricht zu wissen.

Oder er ist auf gar nichts gekommen, weil er diese Markierungen selbst eingezeichnet hat.

Mit zusammengezogenen Brauen nahm ich Nicholas Engel ins Visier. Langsam kamen mir doch Zweifel an meiner ersten Einschätzung seiner Unschuld. Einerseits wäre es nicht besonders schlau von ihm, zuzugeben, dass er wusste, was die Markierungen darstellten, wenn er der Täter war. Andererseits hatte er wirklich sehr schnell erkannt, was es mit diesem Muster auf sich hatte. Deshalb kam ich nicht umhin, nachzufragen: „Wie haben Sie das so schnell erkannt?"

„Nun ja", meinte Nicholas Engel. „Ich weiß eben ein bisschen was über die Entstehung von Freudenstadt." Als weder Florian noch ich ihm in irgendeiner Weise signalisierten, dass wir wussten, worauf er damit hinauswollte, fuhr er schüchtern, aber seiner Kenntnisse offenbar sicher fort: „1599 hat Herzog Friedrich I. von Württemberg seinen Baumeister damit beauftragt, eine Planstadt zu entwerfen. Und der Baumeister hat sich beim Grundriss an einem Mühlespielfeld orientiert. Deswegen wusste ich schon bevor Sie mir das hier gezeigt haben, dass unser Stadtzentrum wie ein Mühlefeld strukturiert ist."

Eine gute Erklärung – zu gut für eine spontane Lüge. Was eine im Voraus geplante Lüge jedoch nicht ausschloss, doch trotzdem entschied ich, diese Erklärung zunächst einmal als glaubwürdig einzustufen, denn sie passte zu dem, was er zuvor schon über sich preisgegeben hatte. Dennoch gab ich nur ein möglichst unbestimmtes „Hm" zur Antwort, um abzuwarten, ob er sich weiter rechtfertigen würde, und dann zu entscheiden, wie ich seine weitere Reaktion einschätzen sollte.

Doch Nicholas Engel versuchte nicht, sich weiter zu rechtfertigen. Stattdessen fragte er zögerlich: „Sie haben gesagt, dass Sie diese Karte am Tatort gefunden haben – was bedeutet das jetzt?"

Gute Frage.

„Das fragen wir dich", gab Florian zurück und starrte ihn argwöhnisch an. „Das musst du doch wissen." Falls er der Täter war. Aber war er das? War Nicholas Engel jemand, der seine eigene Halbschwester umgebracht hatte, um ein Spiel mit mir zu spielen?

Denn der Mörder hielt es offensichtlich für ein Spiel – oder war bereit, es zumindest als solches zu inszenieren, um sein eigentliches Motiv zu verschleiern. Soviel stand fest, immerhin hatten wir am Tatort dieses Blatt Papier gefunden. Diese Karte mit diesem Mühlespielfeld, den Hinweis zum Toleranzradius und die an mich adressierte Nachricht. Und wo hatte die Leiche gelegen? Innerhalb des Toleranzradius um einen der markierten Punkte herum. An der Stelle, an der man, wenn alles ein Mühlespiel wäre, eine Figur positionieren würde. Wenn alles ein Mühlespiel wäre.

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt