Kapitel 17

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Nachdem wir Federico de Luca in eine Zelle gebracht und die Polizeiwache verlassen hatten, war ich entgegen dessen, was ich Florian gesagt hatte, doch wieder zu der Ecke des Spielfelds zurückgekehrt, an der wir zuvor Wache gehalten hatten, und hatte die dort postierten Beamten abgelöst und heimgeschickt. Ja, eigentlich hatte ich meinem Kollegen versichert, dass ich vernünftig sein und nach Hause gehen würde – immerhin hatten wir den Hauptverdächtigen geschnappt und trotzdem passte noch jemand an den kritischsten Stellen auf, zur Sicherheit. Doch auch wenn mir klar gewesen war, dass er Recht damit hatte, wenn er sagte, dass ich mich ein bisschen entspannen und endlich schlafen legen sollte, hatte ich doch auch gewusst, dass ich nicht einfach so nach Hause fahren konnte.

Daher war ich bis Mitternacht an der Ecke geblieben und hatte aufgepasst. Es war nichts passiert. Dann war ich das ganze Spielfeld abgelaufen und hatte an jedem Knotenpunkt nach einer Leiche Ausschau gehalten. Ich hatte nichts gefunden. Auch nicht an der zweiten Ecke, die von Nicholas Engel als nächstes Ziel des Mörders prognostiziert worden war.

Erst als ich das Gefühl gehabt hatte, alles getan zu haben, was ich in dem Moment tun konnte, und erst als die Erkenntnis, dass es tatsächlich keinen neuen Mord gegeben zu haben schien, allmählich bei mir durchgesickert war, war ich nach Hause gefahren, um endlich halbwegs beruhigt schlafen zu gehen.

Soweit der Plan – der Anblick meiner Wohnung hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Alles hatte Erinnerungen an Mike geweckt, an die Zeit mit ihm, diese wundervolle, aber viel zu kurze Zeit, in der ich so ungewohnt glücklich gewesen war, Erinnerungen an das Ende dieser Zeit und schließlich auch Erinnerungen an sein persönliches Ende, seine Leiche mit dem blutigen Einschussloch. Diese Erinnerungen hatten mich so lange wach gehalten, bis weder Geduld noch Tränen übrig gewesen waren und ich genug davon gehabt hatte.

Nur hatte die Schlaftablette, die ich genommen hatte, leider ein bisschen zu gut gewirkt. So gut, dass ich zum ersten Mal seit Jahren verschlafen hatte.

Fluchend sprang ich nun aus dem Bett und riss meinen Kleiderschrank auf. Lange darüber nachzudenken, was ich nehmen sollte und was ich miteinander kombinieren konnte, brauchte ich nicht, denn alle Kleider, die ich besaß, folgten mehr oder weniger dem gleichen grau-schwarz-blau-grünen Farbschema und daher wusste ich, dass alle irgendwie miteinander kompatibel waren. Trotzdem hatte ich das Gefühl, viel zu viel Zeit zum Anziehen zu brauchen.

Ich verschlief eigentlich nie. Und ich kam nie und schon gar nicht zwei Stunden zu spät.

Es gibt für alles ein erstes Mal.

Ja, aber musste es ausgerechnet während einer wichtigen Mordermittlung passieren?

Von meinem Wecker, der offensichtlich nicht laut genug geklingelt hatte, um mich zu wecken, von mir selbst und – ohne einen spezifischen Grund – irgendwie auch von der ganzen Welt schon so kurz nach dem Aufstehen genervt schnappte ich mir schnell mein Handy und schlüpfte rasch in Schuhe und Jacke. Auch wenn es vielleicht eine dumme Idee war, mich mit leerem Magen in die Arbeit zu stürzen, blieb jetzt keine Zeit mehr für ein Frühstück, denn ich wollte nicht noch später kommen als ohnehin schon. Eigentlich bräuchte ich jetzt auch dringend einen Kaffee und der Anblick meiner verlockend bereit stehenden Kaffeemaschine ließ mich auch beinahe schwach werden, aber nein, ich war bereits zwei Stunden zu spät, da konnte ich mir keine weitere Verzögerung mehr erlauben. Ich würde mir auf der Polizeiwache einen Kaffee kochen müssen.

Du wirst die Fahrt dorthin bestimmt auch ohne Koffein überleben.

Da war ich mir nicht so sicher. Denn obwohl ich verschlafen hatte, hatte ich trotzdem etwas zu wenig geschlafen, um auf Höchsttouren zu funktionieren. Hoffentlich würde meine im Augenblick nicht vollständig abrufbare Aufmerksamkeit für die kurze Autofahrt zur Polizeistation ausreichen.

„Muss sie, du musst dich jetzt nämlich beeilen", murmelte ich, während ich meine für die Nacht von innen verschlossene Tür aufschloss und mich sofort innerlich darüber ärgerte, dass ich schon wieder laut mit mir selbst gesprochen hatte. Ich sollte wirklich damit aufhören, das...

Auf der Schwelle meiner Wohnung blieb ich stehen, die gerade geöffnete Tür noch in der Hand. Mit einem Schlag waren jede Müdigkeit und jeder Ärger fort.

Weggewischt durch den Anblick des kleinen Straußes weißer Blumen vor meinen Füßen.

Das konnte nicht sein. Mein Haus lag nicht innerhalb des Mühlefelds. Und es war auch kein Tatort. Ich runzelte die Stirn. Es gab doch auch überhaupt keinen neuen Tatort, ich hatte vor ein paar Stunden alles nach einer neuen Leiche abgesucht und nichts gefunden, de Luca, unser Hauptverdächtiger, unser Täter, saß seit gestern Abend in einer Zelle, er konnte diese Blumen nicht hier abgelegt haben, als ich nach Hause gekommen war, hatten die noch nicht hier gelegen, das... das konnte einfach nicht sein.

Und doch lagen diese Blumen hier, vor meiner Wohnungstür. Vielleicht sollte es mich ein bisschen mehr schockieren, dass ein Verrückter meine Adresse kannte und es geschafft hatte, in mein Haus einzudringen, aber darüber konnte ich im Moment gar nicht richtig nachdenken. Alles, was in meinem Kopf gerade Platz hatte, war der Anblick dieser Blumen. Sie waren auch weiß und sie waren mit dem gleichen Band zu einem Strauß zusammengebunden wie die anderen, aber es waren nicht die Rosen, die der Mörder sonst immer für mich hinterlassen hatte. Diese hier sahen anders aus, hatten eine offene Blüte mit fünf Blättern und mit im Gegensatz zu den Rosen gut sichtbaren Staubbeuteln.

Verwirrt bückte ich mich und hob die schlichte weiße Karte auf, die neben dem Strauß auf meiner Fußmatte lag. Wie alle bisherigen Nachrichten des Mörders war sie am Computer getippt, damit er nicht seine Handschrift als individuelle Spur hinterließ.


Hallo, Alena. Ja, ich weiß, es ist vielleicht die falsche Jahreszeit und es sind auch nicht genau die Rosen, die du schon kennst, aber sind diese Christrosen nicht auch schön? Aber Vorsicht – vom Saft solltest du die Finger lassen und die Samen zu essen würde ich dir auch nicht empfehlen. Das ist einem alten Bekannten von dir letzte Nacht gar nicht gut bekommen.

PS: Ich konnte leider nicht zu ihm, deshalb dachte ich, ich bringe die Blumen einfach direkt bei dir vorbei.


Die Karte rutschte aus meiner Hand. Das klang so sehr nach ihm. Das klang nach dem Mann, der mit mir telefoniert hatte, dem Mann, der meinte, Morde zu begehen wäre eine gute Flirtstrategie. Diese Karte musste von ihm sein. Sie musste von unserem Mörder sein.

Und gleichzeitig konnte sie nicht von ihm sein. Um Mitternacht hatte es auf dem Spielfeld keine neue Leiche gegeben – um welchen alten Bekannten sollte es in dieser Nachricht denn gehen? Was hatte das Post Scriptum zu bedeuten? Und warum waren es andere Blumen als sonst? War das hier vielleicht ein schlechter Scherz oder das Werk eines Trittbrettfahrers, dem es einen Kick lieferte, mir so mitzuspielen? Aber das konnte doch auch nicht sein, die Öffentlichkeit wusste nichts von der Mordserie, also konnte es auch keine Nachahmungstäter geben.

Das alles konnte einfach überhaupt nicht sein. Es ergab keinen Sinn.

Okay, und was jetzt?

Jetzt musste ich irgendetwas tun. Ich überlegte kurz, dann zückte ich mein Handy. Wählte eine Nummer und wartete, bis er abnahm.

„Weiler!" Florians besorgt, aber irgendwie auch erleichtert klingende Stimme zu hören beruhigte mich ein bisschen. Das sagte mir, dass da jemand war, mit dem ich reden konnte, dem ich von dieser Sache hier erzählen konnte und der zusammen mit mir herausfinden würde, was es damit auf sich hatte. „Wo steckst du?"

„Noch zu Hause", antwortete ich schnell. „Tut mir leid, ich hab verschlafen. Florian, ich..." Ich zögerte, wusste nicht, was genau ich eigentlich sagen wollte. Hey, kann es sein, dass ich auf den Falschen geschossen habe und jetzt doch noch jemand tot ist, den ich gestern aber irgendwie übersehen habe, weil ich allmählich anscheinend nicht nur durchdrehe, sondern auch meine Sehkraft verliere? Das konnte ich doch nicht sagen. Aber irgendwie musste ich ihm von meinem Fund erzählen.

Es war Florian, der die eingetretene Stille durchbrach, bevor ich entschieden hatte, wie ich anfangen sollte. „Alena, es gibt schlechte Neuigkeiten. Wir haben eine neue Leiche."

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt