Kapitel 42

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„Wo steckst du?"

Ich seufzte tief und hinterfragte die Entscheidung, Isabelas Anruf angenommen zu haben. Ich hatte doch damit gerechnet, dass sie diese Frage stellen würde, und mir war auch klar gewesen, dass ich ihr eine für sie und für mich unbefriedigende Antwort darauf geben müsste – was schließlich auch der Grund war, warum ich ihre ersten beiden Anrufe ignoriert hatte. Und mich dabei schlecht gefühlt hatte, weil ich keine gute Ausrede hatte, nicht ranzugehen. Ja, ich war im Dienst, aber ich erwartete keinen wichtigen oder dringenden Anruf und ein kurzes Telefonat mit ihr würde die Leitung nicht zu lange blockieren, falls doch noch jemand anderes versuchte, mich dienstlich zu erreichen. Und außerdem hatte ich gerade sowieso nichts anderes zu tun als zurück zur JVA zu fahren, also eine Strecke zu nehmen, die ich mittlerweile schon in- und auswendig kannte. Und es war niemand außer mir im Auto, vor dem ich nicht mit meiner besten Freundin telefonieren wollte.

Also: keine Ausrede, mich der berechtigten Frage nicht zu stellen. Was nicht bedeutete, dass ich direkt darauf antworten würde. „Im Auto", gab ich vage zurück.

„Bist du auf dem Weg hierher?", fragte Isabela sofort hoffnungsvoll.

Vermutlich sollte ich nicht ahnungslos „Wohin?" zurückfragen, denn damit würde ich wohl sogar Isabelas nahezu grenzenlose Geduld auf die Probe stellen. Immerhin wusste ich, wovon sie redete. Von dem Stufentreffen, das vor über einer Stunde angefangen hatte und zu dem zu kommen ich quasi versprochen hatte – sofern bis dahin der Mörder hinter Gittern saß. Was ja jetzt der Fall ist. Zumindest diese Konfrontation wollte ich aber noch versuchen, ich wollte Florian noch diese Chance geben, mir eine glaubwürdige Erklärung für die Fotos auf seinem Rechner und für seine Internetchronik zu liefern. Und für alle anderen Indizien, die gegen ihn sprachen.

Ich schüttelte den Kopf und bemerkte, dass ich Isabelas Frage noch immer nicht beantwortet hatte. „Nein", sagte ich wahrheitsgemäß. „Ich arbeite noch."

„Aber du hast dir doch heute freigenommen!"

„Ja, habe ich", erwiderte ich und fragte mich, ob das zu genervt geklungen hatte. Denn eigentlich war ich nicht genervt – da ich ihr zugesichert hatte, zu kommen, war es ihr gutes Recht und auch lieb von ihr, an mich zu denken und zu fragen, wo ich blieb. „Aber jetzt muss ich mich hier um einen Serienmörder kümmern. Versteh bitte, dass ich deswegen erst später kommen kann." Es war ja nicht so, dass ich gar nicht mehr kommen würde, oder zumindest war das nicht mein Plan. Und so viel würde ich doch wohl nicht verpassen. Jedenfalls nicht im Vergleich zu den letzten Jahren, in denen ich überhaupt nicht bei den Treffen aufgetaucht war.

„Himmel, Alena!" Isabela seufzte tief, doch ich hörte diesem Seufzen ihr Verständnis an. „Wieso musst du immer arbeiten?" Ich antwortete nicht, weil das keine Frage war, die eine echte Antwort erforderte. Ein Serienmörder war wichtiger als ein Stufentreffen, auch wenn es ein Jubiläums-Stufentreffen war. „Aber du kommst noch, ja?"

„Ja. Sobald ich hier fertig bin." Nach der Konfrontation mit Florian und sofern es dann keine neuen Erkenntnisse gab, würde ich mich auf den Weg zu der Adresse machen, die Isabela mir geschickt hatte.

Nachdem ich mir nach kurzem Hin und Her das Versprechen hatte abringen zu lassen, wirklich ohne Umwege zu kommen, wenn ich fertig war, legte ich auf und brachte den Rest der Strecke in Stille hinter mich. In der JVA wurde ich bereits erwartet, daher kam ich relativ schnell rein, und schon befand ich mich wieder mit Florian und Kurniawan in dem Besucherzimmer von vorhin. Diesmal bestand Kurniawan darauf, dass Florian und ich uns hinsetzten, damit das Potential einer schnellen Eskalation schon einmal gesenkt war, während er stehen blieb, um zur Not eingreifen zu können.

Doch Florian wirkte nicht so, als hätte er vor, mich noch einmal zu verletzen. Dafür sah er viel zu schuldbewusst wegen vorhin aus. Und außerdem versicherte er mir noch einmal, dass es ihm leid tat, dass das nicht seine Absicht gewesen war und dass es nie wieder vorkommen würde.

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt