Kapitel 36

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„Alena, ich hab dir doch gesagt, das sind alles richtig blöde Zufälle, nichts weiter!"

Nach zumindest bei mir nicht mehr als zwei Stunden Schlaf und einem kurzen, aus einer Tasse Kaffee bestehenden Frühstück saßen wir nun wieder im Vernehmungsraum, Florian erneut auf der Seite der Verdächtigen, ich ihm gegenüber. Auf dem Tisch zwischen uns standen jetzt Kaffeetassen, eine für mich, die ich, obwohl ich bereits zu Hause eine getrunken hatte, gut gebrauchen konnte, eine für Florian, der ebenfalls so aussah, als hätte er das Koffein nötig. Seine sonst ordentlich frisierten und sorgfältig in Form gebrachten Haare standen wirr von seinem Kopf ab und seine Augen waren verquollen und müde. Ja, er brauchte eindeutig auch Kaffee. Trotzdem hatte er genau wie ich seine Tasse noch nicht angerührt – ob es bei ihm der gleiche Beweggrund war wie bei mir, nämlich dass ich nicht die Hand nach der Tasse ausstrecken konnte, ohne damit seinen Händen näher zu kommen als ich wollte, wusste ich nicht. Nur, dass er seine wieder in Handschellen gelegten Hände bei sich behielt.

Die einzige Tasse, die nicht mehr ganz voll war, war die Tasse von Kurniawan, der neben mir saß. Erst als ich ihn vorhin an der Kaffeemaschine gesehen hatte, war mir eingefallen, dass er auch noch da war. Er hatte mich zwar freundlich begrüßt, hatte dabei aber ein wenig reservierter auf mich gewirkt als gestern. Vielleicht nahm er es mir übel, dass ich ihn letzte Nacht nicht informiert hatte. Wie er mir nämlich nach einem schnellen „Guten Morgen" mitgeteilt hatte, hatte er erst eben von Pfeffer erfahren, was passiert war und dass ich bereits ohne ihn eine kurze Vernehmung durchgeführt hatte. Vielleicht hätte ich mich dafür entschuldigt, dass ich ihn vollkommen vergessen hatte, hätte ich in dem Moment nicht Florian gesehen, der gerade in den Vernehmungsraum gebracht wurde. Denn ab da waren meine Gedanken wieder nur auf ihn gerichtet gewesen. Und auf mein Ziel: endlich Antworten von ihm zu bekommen.

„Zufälle", wiederholte ich nun und ließ Florian deutlich hören, dass ich nicht überzeugt war. „Aha." Es war nicht unmöglich, aber es kam mir doch unwahrscheinlich vor, dass er bei jedem Anruf des Mörders nur zufällig nicht in meiner Nähe gewesen war. Beim ersten Anruf hatte ich auf dem Gang vor der Toilette gestanden, während Florian im Vernehmungsraum gewartet hatte. Beim zweiten Anruf war er angeblich in Lehmanns Büro gewesen, während ich im Auto auf ihn gewartet hatte. Und beim dritten Anruf war er unterwegs und ich auf der Polizeistation gewesen. Das konnten doch nicht bloß „richtig blöde Zufälle" sein, oder?

Nein, das war einfach unwahrscheinlich. „Das würdest du doch selbst nicht glauben, wenn du an meiner Stelle wärst." Obwohl er das doch einsehen musste, setzte Florian zu einem Widerspruch an. Aber ich hatte wesentlich zu wenig geschlafen, um die Geduld aufzubringen, mir seine Ausreden anzuhören, daher ließ ich ihn gar nicht erst zu Wort kommen: „Außerdem geht es ja nicht nur um die Anrufe." Nein, da hörten die Verdachtsmomente ja noch lange nicht auf. „Lass uns mal gemeinsam überlegen, wo du jeweils zu den Tatzeitpunkten der Morde warst. Als Frau Engel ermordet wurde..."

„War ich was zu Mittag essen." Auch Florians angespannter Stimme war die Müdigkeit und die damit verbundene Ungeduld deutlich anzuhören.

„Kann das jemand bezeugen?"

„Ja, Th..." Er stockte, senkte den Blick auf seine Hände. „Nein, nicht mehr", murmelte er schließlich. „Thomas hätte es bezeugen können." Er holte zittrig Luft und sah wieder auf. Als sein Blick meinen traf, fiel mir erst auf, dass seine Augen vielleicht nicht bloß so verquollen waren, weil er kaum geschlafen hatte. Ich hatte Florian noch nie weinen gesehen. Aber angesichts der momentanen Situation – immerhin war sein Kumpel ermordet worden. Ja, und zwar von ihm.

Sofort war der Impuls, ihm mein Beileid auszusprechen oder ihn irgendwie zu trösten, wieder vergangen. Stattdessen erwiderte ich bloß steif: „Das ist... misslich."

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt