Kapitel 8

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Wir spielen nicht mit Mördern.

Das war die Entscheidung, die wir gestern getroffen hatten. Staatsanwalt Pfeffer hatte seine Meinung mit dem gleichen Argument untermauert, das mir auch schon durch den Kopf gegangen war, und auch Lehmann, mein direkter Vorgesetzter, war schnell zu dem Schluss gekommen, dass wir den Täter nicht zum Weitermachen ermutigen sollten, indem wir uns auf sein Spiel einließen. Da auch Florian dafür plädiert hatte, nicht auf die Aufforderung eines Verrückten einzugehen, hatte ich mich der allgemeinen Meinung angeschlossen und zugestimmt.

Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Vielleicht hätte ich mich dafür einsetzen sollen, doch mitzuspielen. Vielleicht wäre ich dann heute nicht um fünf Uhr morgens aus dem Bett geklingelt worden von einem Anruf, der mir mitteilte, dass wir offenbar die falsche Entscheidung getroffen hatten. Und dass nun die vom Täter angedrohte Konsequenz gezogen worden war.

Ein zweiter Mord.

Mit mir wirst du spielen – oder die Konsequenzen tragen. Das war doch die Konsequenz dafür, dass wir uns gegen sein Spiel entschieden hatten, oder? War das überhaupt das Werk unseres Mörders oder war ich bloß so fixiert auf den Fall Engel, dass ich ihn mit allem in Verbindung brachte?

Wirst du ja gleich sehen, Alena. Ja. Wenn an dem Tatort, zu dem ich gerade fuhr, auch weiße Rosen lagen, dann würde ich Gewissheit haben.

Ich wollte nicht noch einen Mord, einen Mord, der angeblich meinetwegen begangen wurde. Wer war es diesmal? Wessen Leiche wartete heute auf mich?

Aber vielleicht war es auch niemand, den ich kannte, vielleicht war es ein ganz anderer Mord, begangen von einem ganz anderen Täter, ein Mord, den ich einem anderen Ermittler überlassen konnte, ein Mord, der nichts mit mir zu tun hatte.

Andererseits: Wenn es ein Mord unseres Mörders war, dann war das auch irgendwie... gut. Verflucht. Das hörte sich ja so an, als wollte ich, dass er weitermordete. Das wollte ich nicht, am liebsten wäre es mir, wenn er überhaupt nicht morden würde, ob jetzt für mich oder doch für sich selbst, einfach gar nicht, aber je mehr Morde er beging, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass er irgendwann einen Fehler beging, nachlässig wurde und uns endlich hilfreiche Hinweise, womöglich sogar Beweise lieferte.

Denn bis jetzt sah die Beweislage schlecht aus. Unsere Pathologin hatte die bereits vermutete Todesursache und das Fremdverschulden bestätigt, allerdings hatte sie uns auch mitgeteilt, dass sie keine verwertbaren Fingerabdrücke oder DNA-Spuren gefunden hatte – nicht auf der Leiche, denn die hatte der Täter ja nicht anfassen müssen, da der Fundort auch der Tatort war und die Leiche nicht transportiert worden war, aber auch nicht auf dem Zettel oder auf dem Blumenstrauß. Auch die Faserspurenlage sah eher schlecht aus, immerhin war das eine Straße, die von ganz vielen Menschen passiert und nicht übermäßig häufig gesäubert wurde – alles, was da an Fasern herumfuhr, könnte von irgendjemandem sein, und ganz Freudenstadt zu verdächtigen brachte uns nicht weiter.

Mit den Zeugen sah es auch schlecht aus, denn die einzige Zeugin blieb die nicht sonderlich vertrauenswürdige ältere Dame, von der Florian mir gestern berichtet hatte. Auch an dieser Front hatten wir also quasi nichts.

Nur die Technik lieferte einen kleinen Lichtblick. Hilfreiches Überwachungskameramaterial hatten wir zwar nicht, dafür aber wahrscheinlich eine Telefonnummer, denn unsere Techniker hatten mir versichert, dass sie herausfinden konnten, von welchem Handy aus ich angerufen worden war. Und mit diesem Wissen konnten wir das Handy, solange es eingeschaltet war, orten. Und herausfinden, wem die Nummer zugeordnet war. Ich hatte unsere Techniker damit beauftragt, den Besitzer des Handys aufs Revier zu bringen, sobald sie wussten, wem das Handy gehörte. Zwar ging ich nicht wirklich davon aus, dass der Mörder so blöd wäre, ein auf ihn angemeldetes Handy zu benutzen, aber trotzdem wollte ich mit der Person, der das Handy gehörte, sprechen; vielleicht stammte sie ja aus dem Umfeld des Täters und brachte uns dem Mörder ein bisschen näher.

Vielleicht. Das war für meinen Geschmack alles viel zu unsicher.

Zerknirscht kam ich am Tatort an. Ein Restaurant, in dem ich früher ein paar Mal mit Isabela gegessen hatte, bis zu einer Ermittlung, die mich dazu gebracht hatte, meiner besten Freundin zu erklären, dass es mir lieber wäre, einen anderen Treffpunkt zu suchen. Beziehungsweise: Genau genommen befand sich der Tatort vor dem Restaurant.

Ich hielt den Wagen an, schnappte mir die Thermoskanne, die ich noch schnell mit Kaffee gefüllt hatte, bevor ich das Haus verlassen hatte, und stieg aus dem Auto. Sofort wünschte ich mir, einfach wieder einsteigen und wegfahren zu können. Natürlich konnte uns ein weiterer Mord helfen. Aber gleichzeitig war es auch ein Mord. Ein Mord, für den der Mörder mich mitverantwortlich machte.

Denn es war unser Mörder. Die Leiche konnte ich zwar noch nicht sehen und das wollte ich eigentlich auch gar nicht wirklich, aber ich sah schon die Blumen. Den Strauß weißer Rosen. Und das sagte mir genug.

Ich runzelte die Stirn, als plötzlich Florian in mein Blickfeld trat und mir damit die Sicht auf den Tatort verwehrte. Mit Absicht? „Weiler. Vielleicht solltest du dir den Tatort lieber nicht ansehen." Also ja – er versuchte tatsächlich, mich vom Tatort fernzuhalten, mich irgendwie... zu beschützen. Wovor denn? Florian fuhr sich durch die Haare, die noch feucht und welliger also sonst waren, wahrscheinlich nach einer kurzen Dusche, um etwas wacher zu werden. „Also zumindest nicht, solange die Leiche noch hier liegt."

Ich legte skeptisch den Kopf schief. „Was soll das?", fragte ich. „Das ist unsere gemeinsame Ermittlung, also werde ich mir selbstverständlich sowohl den Tatort als auch die Leiche ansehen." Florian öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus. Dass ihm die Worte zu fehlen schienen, beunruhigte mich doch ein bisschen, denn das kam so gut wie nie vor, aber ich war zu empört darüber, dass er sich herausnahm, zu entscheiden, was gut für mich war, weshalb ich trotzdem fortfuhr: „Das hier ist nicht mein erster Tatort und auch nicht meine erste Leiche, also wirst du mich jetzt vorbeilassen." Er hatte kein Recht, für mich zu entscheiden, ich wollte nicht, dass er mich in Watte packte, denn wenn wir diesen Mörder fassen wollten, mussten wir zusammenarbeiten und beide über alles informiert sein. Außerdem konnte ich selbst einschätzen, womit ich klar kam und womit nicht. „Denkst du etwa, ich pack das nicht?"

„Ja", gab Florian zurück. Kurz angebunden und ehrlich, aber auch mit einer gewissen Besorgnis in der Stimme. Bevor ich protestieren oder ihn vielleicht auch einfach nur aus dem Weg schieben konnte, meinte er leise: „Ich will nicht, dass du noch einmal wochenlang irgendwo untertauchst."

Jeder Gedanke daran, ihn zurechtzuweisen oder ihn sogar physisch wegzustoßen, löste sich augenblicklich in Nichts aus. Mit einem Mal wurde es in meinem Kopf ganz still. Die einzige Frage, die ich irgendwie noch herausbekam, war ein tonloses: „Was?"

Florian atmete tief durch. „Es ist Mike. Mike Williams." Er sprach weiter, ich sah, wie er seine Lippen bewegte, ich sah auch, wie er die Augen aufriss und nach der Thermoskanne griff, die mir aus der Hand rutschte, die er aber nicht mehr erwischte, doch ich hörte nichts davon, seine Worte nicht und auch nicht das Scheppern der Thermoskanne, als sie auf dem Boden aufkam. In meinem Kopf tobte eine Stille, die meine Beine in Bewegung versetzen wollte und mich gleichzeitig an meinem Standort festnagelte.

Mike Williams. Es war Mike.

Langsam setzte ich mich doch in Bewegung, schob Florian zur Seite, vielleicht schubste ich ihn auch, ich wusste es nicht, ich spürte es nicht, spürte gar nichts, als ich meinen Weg zum Tatort fortsetzte. Zu der Leiche, die dort auf mich wartete, leblos, tot und mit einem blutroten Einschussloch in der Stirn, das ich sah, als ich näher kam, immer näher, bis ich noch mehr Details erfassen konnte: die strahlenden Augen, in denen ich mich so oft verloren hatte, und die jetzt blicklos und leer den dunklen Himmel anstarrten; die hellen Haare, die immer besonders weich gewesen waren, nachdem er mal wieder vergessen hatte, sein eigenes Shampoo nachzukaufen, und sich dazu hatte breitschlagen lassen, meins zu benutzen, obwohl es eigentlich nicht männlich genug roch, und die jetzt dunkelrot besprengt waren; das T-Shirt, das ich ihm mal geschenkt hatte und von dem ich wusste, dass er es hier in Deutschland bei seinem Vater zurückgelassen hatte.

Bevor er gegangen war, zurück nach Amerika, zurück zu der Familie, von der er mir nichts erzählt hatte.

Bevor er mich hier zurückgelassen hatte.

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt