Kapitel 24

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„Aber was hat er sich denn dabei gedacht?"

Aus meinen Gedanken gerissen hob ich den Kopf. „Hm?"

Nicholas Engel wies auf die Stadtkarte mit den schwarzen und weißen Markierungen – dem Feld, das wir benutzten, um den nächsten Zug zu besprechen. „Ihr Gegenspieler", meinte er, während er kopfschüttelnd das Spielfeld betrachtete. „Dieser Zug ergibt absolut keinen Sinn. Wenn er seine Strategie mit den Ecken weiterverfolgt hätte, dann hätte er eine Mühle sicher gehabt und er hätte einen Ihrer Steine aus dem Spiel nehmen können." Er wandte sich mir zu, mit verständnislos gerunzelter Stirn. „Wieso hat er diese Chance vertan?"

Ich räusperte mich, dann formulierte ich vorsichtig eine Erklärung: „Ich gehe davon aus, dass dieser Zug sehr spontan und ohne strategische Intention gemacht wurde." Eine Erklärung rein auf der Ebene des Spiels, ohne einen Hinweis auf das, was darum herum passierte. Denn ich war mir noch nicht sicher, ob ich Nicholas Engel mehr sagen sollte. Natürlich musste er in seiner Funktion als Berater alles erfahren, was er wissen musste, um eine gute Strategie zu erarbeiten. Aber wie viel sollte er zusätzlich erfahren? Beziehungsweise: Wie weit sollte ich damit gehen, die Regel zu brechen, keine Außenstehenden über den Stand einer aktuellen Ermittlung zu informieren? Ja, ich hatte mittlerweile zwar den Segen des Staatsanwalts und durfte Nicholas Engel als eine Art externen Berater konsultieren. Aber wir hatten noch nicht darüber gesprochen, wie viel er über das reine Mühlespiel hinaus noch wissen durfte.

Nicholas Engel schüttelte nur weiter den Kopf. „Verstehe ich trotzdem nicht."

Vielleicht war es doch an der Zeit, ihm zu sagen, warum dieses Mühlespiel so wichtig war, dass ich ihn hierher gebeten hatte, und wie genau das Ganze mit dem Mord an seiner Schwester zusammenhing. Denn nur wenn er wusste, mit was für einem Gegenspieler wir es zu tun hatten, konnte er dessen Züge vernünftig nachvollziehen und dann vielleicht auch noch besser voraussagen. Außerdem erschien es mir irgendwie unfair, sein Wissen über Mühle auszunutzen und ihm aber gleichzeitig keinerlei Information darüber zu geben, warum genau die Polizei sich über ein Mühlespiel den Kopf zerbrach, anstatt ganz normal den Mord an seiner Schwester aufzuklären.

Er sollte wissen, was vor sich ging.

Und letztlich würde ich sowieso nicht so viele Geheimnisse preisgeben, denn sobald die offizielle Pressekonferenz, die gerade in einem Raum im Obergeschoss abgehalten wurde, beendet war und die schnellsten Journalisten ihre Artikel veröffentlicht hatten, kannte ohnehin ganz Freudenstadt zumindest die groben Informationen über diesen Fall; Nicholas Engel würde also, sollte ich ihn nun informieren, höchstens ein paar Stunden vor dem Rest der Welt wissen, was los war.

Natürlich würden Florian und Pfeffer nicht alles über den Fall preisgeben – wir hatten vorhin darüber gesprochen, was genau sie an die Öffentlichkeit dringen lassen würden. Nachdem Pfeffer mit eher schlechten Neuigkeiten von den Technikern zurückgekommen war, nämlich denen, dass es schon wieder nicht gelungen war, den Mörder oder irgendwelche Spuren an der Stelle vorzufinden, an dem sein Handy geortet worden war, gab es leider keine großen Erfolge, von denen man den Journalisten berichten könnte. Daher würde die Presse nur Folgendes erfahren: Die bisherigen vier Morde waren Teil einer Mordserie, es war davon auszugehen, dass der Täter weitere Morde plante, und die Polizei tat alles, um herauszufinden, wer der Mörder war, und um ihn zu schnappen. Das war alles, was wir vorerst bekannt geben würden.

Also nichts über das Mühlespiel und auch kein Wort darüber, dass der Mörder diese Taten beging, weil er an mir interessiert war. Darüber, dass vor allem über dieses zweite Detail kein Wort verloren wurde, waren wir uns alle einig gewesen. Natürlich war das eine nicht gerade unwichtige Information, aber nach einer Kosten-Nutzen-Abwägung waren wir zu dem Entschluss gelangt, dass wir das Motiv des Mörders nicht preisgeben würden. Denn die Kosten waren ein erhöhter Druck auf mich, dadurch, dass die Presse dieses Detail sicher in vollen Zügen ausschlachten und mir keine ruhige Minute mehr lassen würde, und außerdem der Zwang, uns dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich immer noch an den Ermittlungen beteiligt war. Der Nutzen dagegen war der rein potentielle Vorteil, dass sich mögliche Opfer aufgrund ihrer Verbindung zu mir eventuell selbst als solche identifizieren könnten – und diesen Nutzen hielten wir alle für zu gering, als dass er die Kosten überwiegen würde.

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt