Kapitel 9

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„Hey."

Langsam hob ich den Blick. Schaute Florian an, dessen Stimme zum ersten Mal wieder zu mir durchdrang, zum ersten Mal seit... Wie lange saß ich schon hier? Wann war ich aus dem Auto gestiegen, wann war ich zum Tatort gelaufen, wann hatte ich ihn gesehen? Den Mann, den ich mal geliebt hatte, von dem ich nicht gedacht hatte, ihn noch einmal wieder zu sehen. Ich hatte es mir irgendwie gewünscht – und gleichzeitig hatte ich gehofft, er wäre wirklich für immer und endgültig aus meinem Leben verschwunden, hatte Angst gehabt vor dem, was aus mir werden würde, sollte ich ihn doch noch einmal sehen.

Ein zitterndes Nervenbündel, das war aus mir geworden. Ein fragiles Gebilde aus stummen Tränen und Beinen, die zu schwach waren, um mein Gewicht zu tragen, die einfach unter mir weg gebrochen waren und mich auf den Boden hatten fallen lassen, mich im Stich gelassen hatten, im Stich und allein mit mir selbst und ihm, was alles war, was in diesen endlosen Momenten für mich existiert hatte. Nein, nicht mit ihm – mit seiner Leiche.

Dieser kalte tote Körper, das war nicht mehr er, das war nur das, was noch von ihm übrig war. Nachdem er auf der Abschussliste eines Verrückten gelandet war – wortwörtlich.

Eines Verrückten, der in mich verliebt war.

„Alena." Florians Tonfall war jetzt eindringlicher. Verständlich, denn ich war schon wieder abgedriftet. Ich war schrecklich: Ich hörte meinem Kollegen nicht zu, ich brach am Tatort zusammen und verunreinigte alles mit meinen Tränen anstatt vernünftig meine Arbeit zu machen und ich war schuld am Tod meines Ex-Freundes. Der Mann, den ich geliebt hatte, der Mann, mit dem ich mir eine Zukunft erträumt hatte, lag jetzt mit einem blutigen Loch im Kopf auf dieser Straße und das alles war meine Schuld. Er war tot, weil jemand dachte, ich würde mich darüber freuen, sein Tod war ein Geschenk an mich und es spielte keine Rolle, dass ich mir das nicht gewünscht hatte. Er war trotzdem meinetwegen ermordet worden. Wenn er mich niemals getroffen hätte, dann würde er jetzt noch leben.

Und wahrscheinlich gerade eine andere Frau verarschen.

Nein. Nein, es war nicht richtig, ihm jetzt noch Vorwürfe zu machen – man sollte nicht schlecht über Tote denken. Vor allem ich durfte das nicht.

Immerhin war es meine Schuld.

„Trink mal was", meinte Florian und holte mich damit zurück aus dem Gedankenstrudel, der mich gerade schon wieder immer tiefer hinab gerissen hatte. Mein Kollege hatte meine Thermoskanne aufgehoben und hielt mir nun den abgeschraubten und mit dampfendem Kaffee gefüllten Deckel hin. Mit klammen, zitternden Händen nahm ich den Deckel entgegen. Vorsichtig nippte ich an dem Kaffee. Er war noch ein wenig zu heiß, aber... „Ein bisschen Wärme tut dir jetzt vielleicht ganz gut." Florian zwang seine Lippen zu einem aufmunternden Lächeln, aber ich sah immer noch die Besorgnis in seinen Augen und in der leicht gerunzelten Stirn.

Als ich ihn bloß schweigend ansah, wurde ihm das Ganze doch ein wenig unangenehm und er wandte den Blick ab, suchte nach irgendetwas anderem, worauf er seine Aufmerksamkeit richten konnte. Seinen nächsten Worten zufolge entschied er sich für den Blumenstrauß: „Weiße Rosen also. Hast du meinen Strauß damals deswegen weggeworfen?"

Verwirrt legte ich die Stirn in Falten. „Welcher Strauß?"

„Der Strauß roter Rosen, den ich dir geschenkt habe", erinnerte mich Florian. „Wenn ich gewusst hätte, dass du weiße lieber magst, hätte ich dir solche besorgt." Allmählich verstand ich, was das hier sein sollte. Ein Ablenkungsversuch. Er versuchte irgendwie, mich auf andere Gedanken zu bringen.

Und ich wollte ihm zeigen, dass ich das zu schätzen wusste, deshalb versuchte ich mich ebenfalls an einem schwachen Lächeln. „Ich glaube, ab jetzt will ich gar keine Rosen mehr bekommen. Oder überhaupt sehen." Denn von nun an würde ich wahrscheinlich jedes Mal, wenn ich Rosen sah, die beiden Leichen sehen, meine verhasste Kollegin und meinen Ex-Freund. Jedes Mal aufs Neue würde ich wohl wieder ihre blassen Gesichter mit den roten Einschusslöchern vor Augen haben.

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt