Kapitel 4

73 6 2
                                    

„Wenn du sie nicht umgebracht hast, was hattest du dann in der Nähe des Tatorts zu suchen?"

Ich schoss Florian einen scharfen Blick zu, doch seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich ganz auf Nicholas Engel – seine Aufmerksamkeit und der Rest seiner mittlerweile zum Glück ein klein wenig abgeschwächten Feindseligkeit. Ich hätte nach dem Aufnehmen der Personalien schneller sein müssen. Ich hätte Florian nicht die Gelegenheit geben dürfen, sofort nach den Formalitäten mit seinen bis jetzt eher haltlosen Beschuldigungen anzufangen. Aber jetzt war es zu spät.

Nicholas Engel schluckte. „Ich, ich war", fing er an, so unsicher, dass ich wusste, dass Florian ihm dieses Zögern als verdächtiges Verhalten auslegen würde. Ich dagegen hielt es eher für vollkommen verständlich, dass ihn das unnötig aggressive Verhalten meines Kollegen einschüchterte. „Ich war im Heimatmuseum."

Florian schnaubte. „Kein unter Fünfzigjähriger geht freiwillig in dieses Heimatmuseum. Willst du mich verarschen?"

Nicholas runzelte die Stirn. „Nein! Warum sollte ich Sie anlügen?" Hilfesuchend sah er zu mir. „Ich, ich studiere Geschichte, in Tübingen, deshalb dachte ich, ich könnte mich für die Ausstellung interessieren. Sie war auch ganz gut – ich war wahrscheinlich ungefähr zwei Stunden dort und wollte gerade auf direktem Weg nach Hause, als ich die Absperrbänder und Polizisten gesehen habe."

„Sie studieren in Tübingen", wiederholte ich schnell, um Florian zuvorzukommen, obwohl ich mir noch das mit dem Heimatmuseum aufschrieb, damit ich dieses mögliche Alibi später überprüfen lassen konnte. Als Nicholas Engel nickte, fragte ich: „Was machen Sie dann hier in Freudenstadt?"

„Während der Semesterferien bin ich immer hier bei meinen Eltern", antwortete Nicholas. „Hier kann ich besser lernen als in meiner WG in Tübingen." Mir fiel auf, dass er bei dieser Antwort auf meine Frage kein einziges Mal gestockt hatte – entweder gewöhnte er sich langsam an die Vernehmungssituation oder es lag daran, dass die Frage von mir und nicht von Florian gekommen war. Was wiederum zwei mögliche Ursachen haben konnte: Er fühlte sich von Florian eingeschüchtert. Oder er war so sehr in mich vernarrt, dass er für mich seine Halbschwester ermordet hatte, was natürlich erklären würde, warum er meine Fragen lieber beantwortete als Florians.

Die erste Möglichkeit, es musste die erste Möglichkeit sein. Die zweite war unsinnig.

Während ich eine weitere Notiz auf meinem Schreibblock machte, fragte ich weiter: „Sie wohnen also gerade bei Ihren Eltern – lebt Ihre Halbschwester auch dort?"

„Engel hat eine eigene Wohnung, Weiler", mischte sich plötzlich Florian ein, mit einem Tonfall, der mir klar machte, dass ich das wohl eigentlich wissen sollte. Aber woher denn? Ich war nie bei ihr zu Hause gewesen, denn warum auch? Mir hatte es gereicht, ihr ein paar Mal täglich auf dem Polizeirevier über den Weg zu laufen. Und ihr hatte diese Kontakthäufigkeit offenbar auch gereicht, sonst hätte sie mich vielleicht auch mal wie andere Kollegen, unter anderem anscheinend Florian, zu sich nach Hause eingeladen. Nicht, dass ich eine Einladung dieser eingebildeten...

Halt. Ich sollte dringend aufhören, darüber nachzudenken, wie wenig ich diese Frau gemocht hatte. Das war nicht hilfreich bei der Suche nach ihrem Mörder.

Wahrscheinlich genauso wenig wie diese Vernehmung. Ich hielt Nicholas Engel nicht für den Mörder seiner Halbschwester. Er wirkte zu unsicher, zu unschuldig, zu sehr wie das Klischee eines von sozialen Interaktionen leicht überforderten Nerds. Er wirkte nicht wie ein Mörder. Aber andererseits: Wie wirkten Mörder schon? In meiner Zeit bei der Kripo war ich einigen begegnet und man konnte keine allgemein gültigen Kriterien aus diesen Begegnungen ableiten. Jeder könnte unter den richtigen, beziehungsweise wohl eher falschen Umständen zum Mörder werden. Auch Nicholas Engel.

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt