Kapitel 22

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Ich stand nur da und schrie.

Mein Blick hob sich kurz zum Fenster hin, von dem nur noch Bruchstücke am Rahmen hingen, der Rest lag in tausenden Scherben auf dem Boden. Meine Augen suchten nach dem Schützen, nach dem Mörder, doch sie fanden nur leere Hausdächer auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes. Irgendwo von dort hatte der Mörder vielleicht geschossen, dem Winkel nach zu urteilen, in dem die Fensterscheibe durchschossen worden und in dem die Kugel nach dem Austritt an mir vorbei geschossen und in der Wand hinter mir eingeschlagen war – zu dieser Vermutung gelangte mein immer auf ermittlungstechnische Analyse ausgerichtetes Unterbewusstsein, ohne dass ich es wirklich registrierte.

Denn alles, was ich bewusst sehen und wahrnehmen konnte, war das zersplitterte Fenster. Und der reglose Körper unterhalb dieses Fensters.

Er war so gefallen, dass ich ihn nicht besonders gut erkennen konnte, denn der Schreibtisch stand zwischen uns. Aber ich sah die Blutlache, die sich um ihn herum ausgebreitet hatte und bis halb unter die Tischplatte vorgedrungen war. Ich sah seine Füße in den perfekt polierten Lederschuhen, auf deren Hochglanz er immer sehr viel Wert zu legen schien. Die Füße, die noch einmal kurz gezuckt hatten, allerdings war das vor...

Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war. Ich konnte überhaupt nicht einschätzen, wie lange ich schon hier stand. Und einfach nur schrie.

Ich konnte nicht damit aufhören, selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte es nicht kontrollieren können, es passierte einfach und es hörte nicht mehr auf, dieses wortlose Schreien. Ich konnte gar nichts tun, außer hier zu stehen und zu schreien, ich konnte mich nicht bewegen. Selbst wenn ich mich bewegen wollen würde, selbst wenn ich am Schreibtisch vorbei näher an den reglosen Körper herantreten wollen würde, es wäre egal, denn meine Füße würden sich nicht in Bewegung setzen.

Aber ich wollte auch nicht näher herangehen. Vielleicht sollte ich es tun, vielleicht sollte ich zu ihm laufen, nachsehen, ob er entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch lebte, prüfen, ob man ihn vielleicht noch retten konnte, ob ich ihm noch helfen konnte.

Ihm. Das war nicht bloß ein regloser Körper. Das war ein Mensch, mein Chef, mein Vorgesetzter Lehmann. Mein toter Vorgesetzter. Ermordet, weil er mir wehgetan hatte. War er böse zu dir? Ja. Ja, das war er gewesen, er hatte mich verletzt mit seinen Anschuldigungen. Und jetzt war er tot. Und behielt doch Recht – denn er war wie die anderen Opfer vor ihm tatsächlich meinetwegen tot.

Irgendwann fiel mir auf, dass mein Schreien aufgehört hatte. Wann genau, wusste ich nicht. Aus welchem Grund, wusste ich auch nicht. Vielleicht, weil einfach nichts mehr rauskam. Erst jetzt realisierte ich langsam den Schmerz in meiner Kehle. Und das sanfte Gewicht auf meiner Schulter.

Ich schreckte zusammen und riss mich los, bereit dazu, denjenigen, der plötzlich hinter mir stand, anzugreifen. Irgendwie hatte in meinem Kopf gerade nur der irre Gedanke Platz, dass es der Mörder sein musste, der sehen wollte, ob ich mich auch über sein neuestes Geschenk freute. Doch als ich mich umdrehte, merkte ich, dass meine Kampfhaltung nicht nötig war. Denn es war nur Pfeffer, der Staatsanwalt. Er registrierte das Blut in meinem Gesicht und auf meinem Shirt, nach der Leiche hinter mir sah er nicht, aber vielleicht hatte er sie schon gesehen, ich wusste ja nicht, wie lange er schon da stand. Erst jetzt bemerkte ich die anderen Polizisten, die in den Raum gelaufen waren, wahrscheinlich alarmiert von meinem Schreien. Mit einem vorsichtigen halben Blick über die Schulter stellte ich fest, dass sich zwei von ihnen über die Leiche beugten, eine dritte Polizistin stand daneben mit geschockt vor den Mund geschlagener Hand, irgendjemand hielt ein Handy in der Hand, vielleicht um einen Krankenwagen zu rufen, doch ein anderer Polizist schüttelte bloß den Kopf und gab damit auch mir die letzte Gewissheit, dass Lehmann nicht mehr zu retten war.

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt