Kapitel 48

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Mein Entschluss stand noch immer fest: Ich musste von hier weg.

Und zwar egal wie. Auch wenn ich Arian dafür verletzen musste. Ich wollte ihm nicht wehtun, trotz allem nicht, aber ich würde es in Kauf nehmen, wenn das der Preis für meine Freiheit war – für meine Freiheit und wahrscheinlich auch mein Leben. Denn irgendwann würde auch er begreifen, dass sein Plan niemals aufgehen würde. Auch wenn er jetzt noch Hoffnung hatte und sich alle Mühe gab, mich davon zu überzeugen, dass er jemand war, der alles für mich tun würde und in den ich mich verlieben könnte.

Heute Morgen hatte er ein aufwendiges Frühstück für mich gemacht, mit Rührei, Speck und verschiedenen Käse- und Obstsorten, alles sorgfältig von ihm in mundgerechte Stücke zerteilt, die er mir mit momentan noch scheinbar unendlicher Geduld verabreicht hatte, bis ich ihm zum zweiten Mal gesagt hatte, dass ich wirklich satt war. Nachdem er meinen Vorschlag, einen kleinen Spaziergang zu machen, damit ich mir die Gegend ein bisschen ansehen konnte, abgelehnt hatte, hatten wir den Vormittag damit verbracht, Mensch-ärger-dich-nicht zu spielen, bis es ihm zu langweilig wurde und er vorschlug, zu Schach zu wechseln.

Nicht, dass ich besonders große Lust gehabt hätte, mit ihm Schach zu spielen. Aber so redete er wenigstens ein bisschen weniger. Uns beiden war nämlich aufgefallen, dass das genau das war, was wir vor all dem hier gemacht hatten, wenn wir Zeit miteinander verbracht hatten: stundenlang reden, über alles Mögliche. Daran wollte er wohl anknüpfen. Aber daran konnte er nicht anknüpfen, damit konnten wir nicht einfach so weitermachen. Nicht nach dem, was er getan hatte und immer noch tat.

Doch er weigerte sich, das einzusehen, und versuchte stur, die einseitigen Unterhaltungen aufrechtzuerhalten. Aber immerhin hielt er, während wir Schach spielten, immer wieder den Mund, damit wir jeweils über den nächsten Zug nachdenken konnten. Als ob er bei einem so leicht zu besiegenden Gegner wie mir großartig nachdenken müsste. Die ersten beiden Male ließ er mich absichtlich gewinnen und als ich ihm sagte, dass er damit aufhören sollte, setzte er mich beim dritten Spiel in vier Zügen matt und erklärte mir, dass jeder irgendwann mal mit dem Schäfermatt geschlagen wurde und dass ihm das in der dritten Klasse passiert war. Zu meinem Ärger konnte ich mir denken, dass das wohl passiert sein musste, als er gerade der Schach-AG seiner Grundschule beigetreten war – ich hatte so viele Informationen über ihn und trotzdem konnte ich keine einzige davon gegen ihn verwenden, um hier raus zu kommen.

Aber irgendwie wirst du hier rauskommen. Du musst.

Ja. Aber erst einmal gab ich mich fügsam und schluckte mein entgeistertes „Spinnst du?" rechtzeitig bevor es mir herausrutschen konnte herunter, als er im Anschluss vorschlug, eine Partie Mühle zu spielen. Statt aufzuspringen – das Seil war ich mittlerweile los, die Handschellen nicht –, ins Bad zu rennen und mich zu übergeben, weil alles, was ich sah, wenn ich das Mühlefeld anschaute, das Arian geholt hatte, die Karte mit den sechs schwarzen Pinnnadeln war, auf der eine fehlte. Die Pinnnadel an der Stelle, an der Florian gestorben war, an der er zusammengebrochen war und wo er mit leeren toten Augen in den Himmel gestarrt hatte... Wegen Arians krankem Vorschlag zu erbrechen oder ihn anzuschreien war das, was ich eigentlich tun wollte. Aber ich riss mich zusammen und schlug nur vor, nun lieber zu Mittag zu essen, auch wenn das Frühstück noch nicht so lange her war, dass ich schon wieder Hunger hätte.

Aber Arian willigte ein, so rasch, als wollte er den Eindruck erwecken, mir jeden Wunsch zu erfüllen – abgesehen von den Wünschen, mir die Handschellen abzunehmen und mich aus dem Haus zu lassen. Doch sonst gab er sich wirklich alle Mühe, ließ sich nach dem Essen, das ich mir hatte aussuchen dürfen, auch darauf ein, Filme mit mir anzuschauen, obwohl das hieß, dass er sich noch weniger gut mit mir unterhalten konnte als bei den Gesellschaftsspielen.

Nach zwei Filmen gingen wir auf seinen Vorschlag hin dazu über, Mario Kart zu spielen. Vielleicht hoffte er, mich an gute Zeiten mit ihm zu erinnern, indem er allgemeine Nostalgie in mir hervorrief. Ich stimmte dem Vorschlag hauptsächlich deshalb zu, weil er mir dafür die Hände vor dem Körper fesseln musste, damit ich die Konsole bedienen konnte, die er für mich mitgebracht hatte. Zwar konnte ich so immer noch nichts gegen ihn ausrichten, weil er meinen Knöchel am Sofa fixierte und so meine Reichweite soweit einschränkte, dass ich an nichts außer der Konsole herankam, die viel zu leicht war, um irgendeinen Schaden anrichten zu können. Aber wenigstens konnte ich so, wenn ich auch tatsächlich nichts versuchte und brav mitspielte, sein Vertrauen in mich stärken. Und je größer sein Vertrauen in mich und darauf, dass ich ihm nicht wehtun wollte und auch nicht mehr versuchen wollte zu fliehen, wurde, desto mehr wuchs auch die Wahrscheinlichkeit, dass er nachlässig wurde und mir eine realistische Chance zur Flucht gab.

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt