Kapitel 33

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„Na ja."

Das fasste alles ganz gut zusammen: die allgemeine Lage, meinen Optimismusstand und das Ergebnis der letzten Stunden Arbeit. Falls man das überhaupt ein Ergebnis nennen konnte.

Beim Stichpunkt Selbstüberzeugung waren noch fast alle dabei gewesen, all die Straftäter, die ich im Laufe der Jahre ins Gefängnis gebracht hatte, und auch die meisten Verdächtigen. Wie von Kurniawan bereits erwogen hatten wir die Frauen, die etwas weniger als ein Drittel ausmachten, und diejenigen, die ich damals als Streifenpolizistin wegen zu schnellen Fahrens oder kleiner Vergehen angehalten hatte, von vornherein ausgeschlossen. Aber es waren immer noch viele, auch nach dem Abgleich mit dem ersten Stichpunkt des Täterprofils. Gut, bei vielen hatte ich womöglich auch lediglich auf Nummer sicher gehen und deshalb niemanden schon bei diesem ersten Kriterium ausschließen wollen.

Denn ich hatte erwartet, dass die weiteren Kriterien die große Masse an potentiellen Tätern gehörig eindampfen würden. Und damit hatte ich Recht behalten.

Auch wenn mir jedes „Den können wir ausschließen" schwer gefallen war, hatte ich es letztlich doch sehr oft ausgesprochen – zu oft. Wie schön wäre es denn, wenn unser Täter irgendjemand wäre, den wir schon auf dem Schirm hatten? Jemand, den ich zwar kannte, den ich aber nicht so gut kannte, dass ich allzu schockiert wäre, wenn herauskam, dass er für mich mordete? Gegen einen alten Verdächtigen zu ermitteln wäre das für mich einfachste Szenario. Aber natürlich wollte die Welt es mir nicht einfach machen. Natürlich zwangen mich Logik und Florians kritisches Nachfragen dazu, einen nach dem anderen auszuschließen.

Wegen fehlender Schieß- und Technikkenntnisse sowie wegen fehlenden Wissens über mich hatten wir keinen ausgeschlossen, weil das alles Dinge waren, über die wir entweder bloß nichts wussten oder die man sich auch in der Zwischenzeit angeeignet haben konnte. Der Stichpunkt Intelligenz dagegen war als Ausschlusskriterium schon hilfreicher: Vielen traute ich nicht zu, klug genug zu sein, um dieses Mühlespiel zu inszenieren und mit mittlerweile bereits vier Morden davonzukommen ohne brauchbare Spuren zu hinterlassen. Auch beim Kriterium Beherrschtheit waren einige ausgeschieden, an deren Hitzköpfigkeit Florian oder ich noch mehr oder weniger gute Erinnerungen hatten. Und ein Großteil derer, die bewiesen hatten, dass sie auch vor schweren Verbrechen nicht zurückschreckten, saß im Gefängnis und hatte kaum Kontakte nach draußen oder zumindest nicht so enge, dass diese Kontakte sich für eine Mordserie einspannen lassen würden. Zwei der Männer, gegen die ich mal ermittelt hatte, hatten das sicherste denkbare Alibi: Sie waren tot, schieden damit also eindeutig als Verdächtige aus.

Woran der Rest gescheitert war, war das Kriterium, dass der Mörder in mich verliebt war. Denn wenn sie mich nicht abgrundtief hassten oder zumindest nicht ziemlich schlecht auf mich zu sprechen waren, dann waren sie mir gegenüber bestenfalls neutral eingestellt. Da war nicht nur ich mir sicher, sondern auch Florian, der da immerhin etwas empfindlicher war als ich und eher dazu neigte, Leuten zu unterstellen, etwas von mir zu wollen. Doch auch mein Kollege kam nach einigem Überlegen letztlich bei allen, die wir noch nicht aus anderen Gründen ausgeschlossen hatten, zu dem Schluss, dass sie sicher nicht versuchen würden, mein Herz zu gewinnen – höchstens im buchstäblichen Sinne, im Falle derer, die so schlecht auf mich zu sprechen waren, dass die Möglichkeit bestand, dass sie mich tot sehen wollten. Spätestens an diesem letzten Kriterium waren alle außer de Luca, den wir schließlich nicht mehr verdächtigten, und einem der zwei Männer aus der Kategorie „tot, also nicht verdächtig" ausgeschieden.

Was bedeutete, dass wir alle als Verdächtige ausgeschlossen hatten, keine neue Spur hatten und damit quasi wieder am Anfang standen.

Kurniawan seufzte tief. „Zumindest wissen wir jetzt, wen wir nicht verdächtigen", meinte er in einem möglichst zuversichtlichen Tonfall. „Das ist doch auch was." Wie der Mann trotz der vergeudeten Zeit noch so positiv denken konnte, war mir wirklich ein Rätsel. Immerhin konnte mittlerweile nicht einmal mehr Florian dem Ganzen etwas Gutes abgewinnen, obwohl er doch sonst in unserem Zweier-Team derjenige war, der mich aufmunterte, wenn ich das Gefühl hatte, dass wir kein Stück vorankamen. Doch nun hatte auch er kopfschüttelnd den Blick abgewandt, weg von Kurniawan und der Liste vor ihm, der Liste mit all den durchgestrichenen Namen, und hin zum Fenster. Es war bereits dunkel draußen.

„Großartig", murmelte ich. Auch wenn die Lage alles andere als großartig war.

Kurniawan brauchte mich nicht gut zu kennen, um zu merken, dass ich das nicht ernst meinte. „Es war keine Zeitverschwendung", meinte er beharrlich. Stundenlang Verdächtige und Verurteilte durchzugehen, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass keiner von ihnen mit nennenswert hoher Wahrscheinlichkeit unser jetziger Täter sein konnte, empfand ich jedoch durchaus als Zeitverschwendung. Es ist aber keine Zeitverschwendung und das wüsstest du auch, wenn du mit weniger Pessimismus und mehr Rationalität auf die Sache blicken würdest. Hm.

Kurniawans dunkle Augen suchten meine und schließlich ließ ich mich auf die Blickbegegnung ein. „Das sage ich nicht nur, um meinen Vorschlag zu verteidigen", fügte er nachdrücklich hinzu. Weder Florian noch ich reagierten darauf. Ich glaubte ihm zwar, dass es ihm nicht nur um sein Ego ging, sondern mehr darum, die Moral noch aufrechtzuerhalten, aber dennoch schwieg ich. Was hätte ich denn sagen sollen, das die Anstrengung, in einem freundlichen, positiven Tonfall etwas zu erwidern, wert gewesen wäre? Das noch irgendeine Anstrengung wert gewesen wäre? Denn ich war inzwischen einfach nur resigniert und müde.

„Also gut", meinte Kurniawan schließlich mit einem weiteren Seufzen, als er begriff, dass ich mich nicht würde aufmuntern lassen. Der LKA-Beamte erhob sich. „Dann würde ich sagen, wir machen jetzt Feierabend. Es ist schon spät."

Nun kam auch in Florian wieder Bewegung. Er wandte sich zu uns um und sagte: „Gute Idee."

Sobald ich die Idee ebenfalls für gut befunden hatten, packten wir unsere Sachen zusammen und gingen wir nach draußen. Vor der Wache verabschiedete sich Kurniawan und machte sich zu Fuß auf den Weg, wahrscheinlich zu einem Hotel in der Nähe. Auch Florian wollte sich auf den Heimweg machen, hielt jedoch inne, als ich unvermittelt ein paar Schritte von meinem Auto entfernt stehen blieb und fluchte. „Was ist?", fragte er sofort alarmiert.

Bevor mir herausrutschte, dass ihn das nichts anging, überlegte ich es mir anders und erklärte es ihm: „Mir ist gerade eingefallen, dass vor meinem Haus immer noch oder wieder Journalisten sein könnten." Immerhin stand am Ende des Artikels, dass die Presse weiter dranbleiben würde, ob an dem Fall oder an mir war nicht präzisiert worden, aber ich hielt beides für möglich. Und was ich nach dem heutigen Tag wirklich nicht gebrauchen konnte, waren nervige Journalisten, die mir den Weg zu meiner Wohnung versperrten und mich mit Fragen bombardierten.

„Du könntest mit zu mir", schlug Florian vor. „Da waren zumindest heute Morgen noch keine Journalisten." Als er sah, dass ich dieses Angebot nicht annehmen würde, fügte er schnell hinzu: „Oder wir könnten zusammen was essen gehen. Ewig werden sie ja wahrscheinlich nicht auf deine Rückkehr warten, das heißt nach dem Essen ist bestimmt keiner mehr da." Da hatte er wohl Recht. Es war wahrscheinlich tatsächlich nicht notwendig, die ganze Nacht lang nicht heimzugehen, denn irgendwann würden auch die Hartnäckigeren aufgeben und nach Hause gehen. Ich musste meine Heimkehr nur lange genug hinauszögern. Allerdings nicht, indem ich mit Florian zu Abend aß oder sogar mit zu ihm nach Hause ging. Damit würde ich ihm nur Hoffnung machen, wo keine Hoffnung war. Und das wollte ich nicht.

Also bedankte ich mich für das Angebot, lehnte es dann jedoch ab und fügte hinzu: „Ich denke, ich... Ich fahre nach Hause. Vielleicht bin ich nur zu paranoid und vor meinem Haus sind jetzt doch keine Journalisten. Und falls doch welche da sind, werde ich schon einen Weg finden, sie abzuwimmeln."

Florian war sichtlich verletzt, weil ich die potentielle Begegnung mit lästigen Journalisten seiner Gesellschaft vorzuziehen schien. Doch er diskutierte nicht mit mir, sondern zuckte bloß nach einem kurzen Durchatmen mit den Schultern, meinte „Wie du willst" und ließ mich dann nach einer kurzen Verabschiedung auf dem Parkplatz hinter der Polizeistation stehen.

Ich atmete ebenfalls einmal tief durch und verdrängte die Enttäuschung in seinem Gesicht aus meinem Kopf. Es war besser für ihn, wenn ich ihm keine falschen Hoffnungen machte. Auch wenn ich ihn dafür anlügen musste.

Denn ich würde nicht nach Hause fahren, noch nicht jetzt, solange es noch relativ wahrscheinlich war, dass dort die Presse auf mich wartete. Nein, mir war zum Glück eben etwas eingefallen, was ich tun konnte, um Zeit zu schinden. Bevor ich mich auf den Heimweg machte, würde ich noch jemanden besuchen. Aber wen, das konnte ich Florian nicht erzählen. Er würde ihn dann nur unnötig noch mehr verdächtigen.

Spiel mit dem MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt