Wenn ich nicht verwurzelt wäre in Berlin, würde ich nach Hamburg ziehen, schießt es mir durch den Kopf. Vincent lenkt seinen BMW durch die Straßen in Marlenes Wohngegend, wir halten Ausschau nach einem Parkplatz. Beziehungsweise übernimmt er das, weil ich mehr die Fassaden der Häuser bewundere. Es ist eine schöne Ecke der Stadt. Das dachte ich schon, als ich das letzte Mal hier war.
Wie lange ist das her? Über zwei Jahre?
Als Vincent plötzlich das Tempo anzieht, greife ich nach dem Panikgriff.
„Hilfe, was machst du?", frage ich ihn. Doch kaum habe ich zuende gesprochen, erübrigt sich seine Antwort auch schon. Wir haben jetzt einen Parkplatz. Vincent hat den Feuerhydranten um nur wenige Zentimeter verfehlt ... Obwohl der Wagen, in dem wir sitzen, ihn viele Tausender gekostet hat, ist er kein vorsichtiger Fahrer. Er grinst mich an, und sieht dabei leicht wahnsinnig aus. Das Resultat der explosiven Mischung einer an der Tanke noch schnell runtergekippten XL-Energydrinkdose und dieses riskanten Parkmanövers.
„Alles aussteigen", scheucht Vincent mich aus seinem Auto.
„Holst du noch die Buntstifte für Tonya aus dem Kofferraum?", frage ich ihn, als wir beide synchron die vorderen Türen zugeworfen haben.
„Jep."
Das Geschenk unter einen Arm geklemmt kommt er zu mir, greift nach meiner Hand und verschränkt seine Finger mit meinen. Ich schenke ihm ein strahlendes Lächeln. Das werden sicher schöne Tage für uns, ich kann es kaum erwarten, jede Sekunde zu genießen.
„Ich muss leider morgen direkt früh raus", lässt Vincent mit einem Mal die Seifenblase zerplatzen, in der ich es mir gerade gemütlich machen wollte. Ich runzle die Stirn. „Die wollten, dass ich ein paar Teile von meinem Sonder-Equipment mitbringe. Bevor die kommen, muss ich das richtig verkabeln und testen, ob alles klappt", erklärt er.
Mein Blick wandert runter zu unseren ineinander liegenden Händen.
„Wann bist du weg?", frage ich, ohne drüber nachzudenken. Meine Stimme ist leise dabei, ich flüstere fast.
Vincent verwandelt sein Gesicht prompt in eine Entschuldigung.
„Halb acht ...?"
„Neun", versuche ich sofort, mit ihm zu feilschen. Er zeigt sich jedoch unerbittlich – zu meinem Leidwesen.
„Acht Uhr. Spätestens."
Ich kapituliere, zu gleichen Teilen seufzend und nickend. Wir sind angekommen bei Marlenes und Ollis Wohnhaus. Ich stelle mich dicht vor Vincent und streichle seine Wange. Seine feinen Bartstoppeln unter meinen Fingerkuppen fühlen sich so vertraut wie eh und je an. Er legt seine Hand auf meine und küsst mich auf die Wange.
„Und wann machst du Feierabend?"
„Wenn die Feierabend machen wollen. Vier Tage für die gesamte Postproduction von 'nem Album ist eigentlich zu wenig. Aber ich hab den Vertrag nun mal unterzeichnet, jetzt muss ich ihn auch einhalten. Sie zahlen mir das Doppelte."
Er greift an mir vorbei und drückt auf den Klingelknopf neben dem Nachnamen unserer Freunde. Ich mache mir ein wenig Sorgen, ob er sich nicht überschätzt hat. Was er durchscheinen lässt, klingt nach einem Mammut-Projekt. Ich weiß, dass er ehrgeizig ist, wie ich. Und ich weiß auch, wie es sich an mir rächt, wenn ich mich tatsächlich überschätzt habe. Das will ich nicht für ihn.
Der Summer ertönt. Vincent hält mir die Tür auf, ich rufe den Fahrstuhl für uns.
Marlene erwartet uns oben schon. Sie lebt mit ihrer Familie in einer geräumig ausgebauten, hellen Dachgeschosswohnung. Ein bodenständig-bürgerlicher Traum, den sie sich nur dank Ollis sattem Gehalt erfüllen konnten. Er ist IT-ler. Zuerst sehe ich ihn gar nicht, dann bemerke ich, dass er mit ein wenig Abstand schräg hinter meiner besten Freundin steht. Und wie müde er aussieht, das sticht mir ebenfalls sofort ins Auge.
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So genial
Fanfiction"Manchmal verlieben sich Menschen ineinander, ist das nicht genial? Ich meine, das ist doch der glücklichste Zufall von allen, oder? Du triffst diese eine Person und auf einmal wird dir wieder bewusst, wie viel Liebe du eigentlich im Herzen tragen k...