38. Kapitel

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"Was machst du hier?" flüsterte ich schluchzend. Er lockerte seine Umarmung und sah mich an. "Ich wollte einfach für dich da sein." Er sah in die Ferne. "Anscheinend war es ja der richtige Zeitpunkt", fügte er hinzu.

Ich nickte und lachte leise. "Irgendwie schon. Hast mich mitten in der Flucht erwischt."

"Wovor fliehst du denn?" fragte er.

Ich sah zurück zu dem Haus meiner Eltern, wie es trist in der öden Gegend stand. Ich überlegte kurz. "Vermutlich vor allem...irgendwie."

"Verstehe", sagte er vorsichtig und strich mir über den Rücken. Eine Wärme umhüllte mich und auf einmal vergas ich, weshalb ich denn so wütend gewesen war.

Unschlüssig trat ich von einem Bein auf das andere. Ich wollte Ethan eigentlich nicht meinen Eltern vorstellen. Ich schämte mich für diesen Teil meines Lebens.

Er schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn er sagte: "Ich hoffe, ich habe dich nicht überrumpelt. Ich wollte einfach wissen, ob es dir gut geht. Ich kann auch wieder fahren."

Ich legte den Kopf schief und dachte nach. Auf der einen Seite wollte ich auf keinen Fall, dass er ging. Auf der anderen Seite war er immer noch ein verlobter Mann, der außerdem niemals in meine Familie passen würde.

"Wenn du willst kannst du gern zu mir", hörte ich mich sagen. Ich war kurz davor, meine Worte wieder zurück zu nehmen, aber er nickte bereits. "Gern."

Ethan hatte in der Parallelstraße geparkt. Wir liefen gemeinsam zum Auto, er hievte seine Tasche heraus und wir machten uns auf den Weg zurück.

"Für was ist die Tasche?" fragte ich neugierig. Er grinste. "Warte!" Ich lachte. "Hast du Sachen zum Übernachten gepackt?"

Er nickte nur. "Jap", gestand er frech. 

"Hast du damit gerechnet, dass ich dich zu uns lasse?"

"Gerechnet nicht, aber gehofft", sagte er.

"Ich muss dich warnen. Das Bett ist extrem klein und unbequem", warnte ich ihn vor. "Kriegen wir hin", erwiderte er.

Als wir vor der Haustür meiner Eltern standen, wusste ich nicht, was ich sagen oder tun sollte. Er stand geduldig hinter mir und musterte mich. „Ich kann jederzeit gehen", erinnerte er mich sanft. Ich nickte, dann klopfte ich. In der Eile hatte ich meine Schlüssel liegen lassen.

Die Tür knarrte als meine Mutter sie öffnete. Sie sah mich besorgt und entschuldigend an. Dann fiel ihr Blick auf Ethan.

„Das ist mein Chef Ethan. Er.." Ich suchte eine Begründung für sein plötzliches Auftauchen. „..war zufällig in der Gegend hier", vervollständigte er meinen Satz, lächelte und streckte seine Hand meiner Mutter entgegen.

Die nahm sie zögerlich an und schüttelte sie. Ich blickte zwischen den beiden hin und her. Meine beiden Lebenswelten prallten gerade aufeinander.

„Ethan wird heute hier bleiben", sagte ich und bemerkte den Trotz in meiner Stimme. Auf einmal fühlte ich mich wieder wie Zwölf.

„Über Nacht?" fragte sie sichtlich erschrocken. Ich bemerkte, wie Ethans Mundwinkel nach oben zuckten. Es schien ihn zu amüsieren. Ich platzierte meinen Ellenbogen mit einem leichten Stoß in seine Seite. „Vermutlich. Der Rückweg ist sonst zu lang", erklärte ich kurz.

„Männerbesuch ist hier doch in Ordnung, oder?" setzte ich nach und drängte mich an ihr vorbei in den Flur. Sie trat beiseite und machte Ethan Platz. „Ich zeig dir mein Zimmer", sagte ich und lief die Treppen voraus nach oben.

Als er seine Tasche neben das Bett stellte, fühlte ich mich unwohl. Die Situation war so absurd, dass ich sie keinem erzählen, geschweige denn mich darin selbst wiederfinden wollte. Mein verlobter Chef schläft in meinem ehemaligen Kinderzimmer, weil mein Vater Demenz hat und meinte Mutter alleine nicht mehr klar kommt, aber gleichzeitig auch ne Affäre mit dem Arzt hat- „Alles gut bei dir?" unterbrach Ethans Frage meinen Gedankenstrudel.

Ich nickte und sagte: „Nein." Er nahm mich wieder in den Arm. „Magst du mir davon erzählen?" Ich nickte erneut und fing an. Ich erzählte ihm von den Differenzen zwischen mir und meinem Vater. Von meiner Mutter, die immer lieber den Kopf einzog als etwas zu tun. Von der Tatsache, dass sie vermutlich was am Laufen hatte mit dem behandelnden Arzt meines Vaters und der Tatsache, dass ich das Gefühl hatte, die beiden eigentlich nicht wirklich zu kennen.

Ich fühlte mich leicht. Als hätte ich einen Ballast abgeworfen, von dessem Gewicht ich mir nicht im Klaren gewesen war. Bis jetzt. Ich war nicht mehr alleine damit. Das war das erste Mal, dass ich das alles offenbarte. Alles offenbarte, was mich ausmachte. Mich offenbarte.

Ich sah zu ihm auf. Ethan sah mich an. „Danke", flüsterte er. Seine Stimme klang tief und angenehm. Ich hatte Angst, er würde mich jetzt anders ansehen, doch in seinem Blick hatte sich nichts geändert.

„Redest du noch mit deiner Mutter?" fragte er nach einer Weile. Ich zuckte die Schultern. „Vielleicht."

Ethan zog seine Jacke aus und legte sich aufs Bett, wobei sein Kopf das eine und seine Füße das andere Ende berührten. Ich lachte. "Das sieht ja bequem aus", scherzte ich. Das Bett reichte für mich gerade so aus, aber niemals für einen ausgewachsenen Mann, schon gar nicht in seiner Größe. Ethan war gut gebaut und athletisch, zu zweit in diesem Bett zu schlafen wäre nur aufeinander möglich. "Wir brauchen einen Schlafplatz für dich", stellte ich fest.

"Für mich?" fragte er. Ich grinste. "Ja. Für dich." Ethan verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und schmollte. Ich atmete laut aus und überlegte. "Ethan. Du bist verlobt", sagte ich nach einer Weile. Diese Tatsache fühlte sich wie ein Stich ins Herz an und sie laut auszusprechen machte es nicht besser - im Gegenteil, es wurde realer. 

Er setzte sich langsam auf und fuhr sich durchs Haar. Sein sonst so aufgeräumtes und gefasstes Auftreten war verschwunden. "Ave, ich weiß nicht weiter", gestand er leise. Er sah mich an und seine Augen schienen mich zu durchbohren, als würde er nach Etwas suchen. 

"Ich weiß", sagte ich. "Du bist an deine Verlobte gebunden. Ich hab's kapiert. Aber warum machst du es mir dann so schwer von dir loszukommen?" 

"Ich-" er stockte, als hätte er mit dieser Frage nicht gerechnet, obwohl sie doch schon lange überfällig war. "Weil ich selbst nicht von dir loskomme", sagte er vorsichtig. "Wie soll ich dich wegstoßen, wenn ich dir nahe sein will? Zu jeder Zeit. An jedem Ort. Wenn meine Gedanken um dich drehen und ich mich selbst nicht wieder erkenne?" Er stand auf. Seine Augen wurden dunkel, als er mir näher kam. "Ich habe mich nie aus der Ruhe bringen lassen, Avery. Ich habe mich immer im Griff, denn das gewährt mir Sicherheit." Er stand nun dicht vor mir. "Was also kannst du tun, damit ich von dir loskomme?"

Ich schluckte. Seinem Blick konnte ich nicht standhalten, also blinzelte ich und sah zu Boden. Mir fiel keine Antwort ein. Ethan legte einen Finger an mein Kinn und zwang mich, zu ihm aufzuschauen. "Siehst du", kommentierte er mein Schweigen. "Du hast auch keine Antwort darauf." Er kam mir noch näher, sodass ich nun seinen Körper an meinem spürte. Langsam beugte er sich vor und küsste meinen Hals. Ich spürte seinen Atem. Plötzlich hatte ich Gänsehaut, als ein angenehmer Schauer mir über den Rücken lief. Ich schloss die Augen und versuchte, ein Stöhnen zu unterdrücken. Ethan ließ seine andere Hand meine Taille entlang wandern. Ich biss mir auf die Unterlippe als sein Griff an meinem Hals fester und die Küsse fordernder wurden. Es fühlte sich an als hätte man mir den Boden unter den Füßen entzogen. Als würde ich mich mit ihm in einer Schwerelosigkeit befinden. 

Der Moment wurde zerrissen, als es an meiner Tür klopfte. Ich zuckte zusammen. Ethan ließ von mir ab, trat zwei Schritte zurück und fuhr sich durch das Haar. Er räusperte sich und sah zu mir. Es klopfte erneut.

"Ja?" fragte ich genervter als ich es beabsichtigt hatte. "Avery, du hast Besuch", rief meine Mutter durch die Tür. "Ich komme", erwiderte ich und sah zu Ethan, der irritiert die Augenbrauen zusammengezogen hatte. "Erwartest du jemanden?" fragte er. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, keine Ahnung, wer das sein könnte."

Er atmete tief durch und schien sich wieder zu sammeln. "Alles gut, ich warte einfach hier", sagte er. Ich nickte und öffnete die Tür, um nach unten zu gehen. 

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