34. Kapitel

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Die Tür wurde schwungvoll geöffnet. Vor mir stand meine Mutter. Ihr Haar war deutlich grauer als vor zwei Jahren. Ihr Blick war müde und gereizt. Ihr Körper sah zerbrechlich und dürr aus. Die Schlüsselbeine traten deutlich hervor in ihrem Hauskleid. Es hatte gelbe Zitronen auf dem Rock aufgedruckt, die allerdings durch das viele Tragen und Waschen bereits ausgeblichen waren. 

All das nahm ich innerhalb von Sekunden war. Ich bemühte mich, ihr direkt in die Augen zu schauen. Starr stand sie vor mir. Ich konnte keine Regung wahrnehmen, doch auf einmal blinzelte sie angestrengt und hielt sich die Hand vor den Mund. 

"Meine geliebt Avery", schluchzte sie. Ich bemühte, die Fassung zu bewahren, doch ihr Anblick zerriss mir das Herz. "Mama", flüsterte ich. Mehr bekam ich nicht heraus, denn mein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Wir fielen uns in die Arme. 

Ich atmete ihren vertrauen Geruch ein und schloss die Augen. Sie hatte mir gefehlt. Ihre Anwesenheit war wie eine zweite Heimat für mich. Eine Weilen hielten wir uns und ich strich meiner Mutter vorsichtig über den Rücken. Mit meinen Fingerspitzen konnte ich jeden einzelnen Wirbel nachfahren, doch ich versuchte, meine Sorgen über sie zu unterdrücken. Ich wusste noch nicht, was mich hier erwartete, all das hatte erstmal Zeit.

Als wir uns lösten hielt sich mich noch einmal fest und sah mich an. "Du siehst gut aus, Avery", stellte sie fest und ich meinte, Erleichterung in ihrer Stimme zu hören. "Danke Mom", erwiderte ich, konnte das Kompliment aber nicht zurückgeben, denn sie schien in den zwei Jahren um ein vielfaches gealtert zu sein.

"Lass uns erst einmal reingehen, Liebes", schlug sie vor. Ich fasste meine Tasche wieder fester und betrat das Haus. Es roch wie immer und die Erinnerungen in meinem Kopf bekamen wieder Farbe. Alles stand genau dort, wo es schon immer gestanden hatte. Nicht einmal neue Bilder oder Dekorationen waren hinzu gekommen. Auf einmal kam es mir nicht heimisch sondern steril vor. 

Ich folgte meiner Mutter in die Küche, während ich mich dabei ertappte, wie ein Gast heimlich meine Umgebung zu betrachten. Doch wo ich auch hinsah, alles war wie immer. Nur ich bin nicht wie damals dachte ich mir und spürte ein befreiendes Gefühl in meiner Brust. Ich atmete tief durch.

"Magst du einen Tee?" fragte meine Mutter als wir in der kleinen aufgeräumten Küche standen, mit den hellblauen Fließen an der Wand. Ich nickte und setzte mich an den alten Holztisch. Aus dem Fenster heraus sah ich den Vorgarten mit dem akkuraten Weg zur Haustür und die Nachbarn auf der anderen Seite der Straße. Misses Adams goss gerade die Blumen in ihrem Beet.

Meine Mutter stellte Wasser auf und setzte sich zu mir. Ihre dünnen Finger griffen zu meiner Hand. Ich nahm sie und streichelte ihr über die Knöchel. Sie lächelte schwach und schien in ihre Gedanken zu tauchen.

"Mama?" fragte ich vorsichtig. Ihr Blick klärte sich wieder und sie sah mich an. "Darf ich fragen, warum du mir diese Nachricht geschickt hast?"

Sie räusperte sich und sah mich ernst an. "Dein Vater ist dement*", sagte sie. Diese Information traf mich unerwartet, doch ich spürte keinerlei Emotion. Sie wartete ab, ehe sie fortfuhr: "Ich habe ihn das letzte Jahr selbst gepflegt, aber ich komme an meine Grenzen. Er kann sich kaum noch erinnern. An manchen Tagen geht es besser, an manchen schlechter. Die Ärzte meinen, er würde unerwartet schnell abbauen. Er befindet sich im zweiten Stadium, sie wissen nicht, wann er das dritte erreichen wird, aber es könnte sich die nächsten Monaten drastisch verschlimmern."

Wir schwiegen eine Weile. Ich dachte nach, was das für mich zu bedeuten hatte. Sollte ich etwa hier blieben und ihn pflegen? Ich spürte, wie sich alles in mir dagegen wehren wollte. Ich hasse ihn.

"Das war also seine Vergesslichkeit", stellte ich schließlich fest. Einige Monate, bevor ich ausgezogen war, hatte mein Vater Termine, Schlüssel und seine Brille überall vergessen. Alles legte er irgendwohin, nur nicht da hin, wo es hingehörte. Doch stur wie er war, gab er nur Mama und mir Schuld. 

Sie nickte und schluckte schwer. Das Teewasser auf dem Herd machte mittlerweile zischende Geräusche. "Hat er nur Demenz?" fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Er hat ein paar Begleiterkrankungen. Außerdem ist es eine vaskuläre Demenz. Er hatte einen Schlaganfall vor fast zwei Jahren. Die Ärzte nehmen an, er hat dadurch stärkere Hirnschäden erlitten als üblich."

Darauf konnte ich nichts sagen. Ich merkte, dass sie mir all das vorenthalten hatte. Sie hatte mir nicht bescheid gegeben. Dabei müsste es ihr eigentlich klar gewesen sein, dass man so etwas irgendwann nicht mehr verheimlichen kann. 

Sie erhob sich und lief zum Herd. Ich beobachtete, wie sie die Teekanne mit dampfendem Wasser füllte. "Warum hast du mir nicht eher etwas gesagt?" fragte ich. 

Als sie sich mit der Kanne umdrehte und zum Tisch zurück lief, mied sie meinen Blick. Sie holte zwei Tassen und setzte sich wieder, diesmal nicht neben mich, sondern gegenüber. Ich spürte einen Stich in meinem Herzen. Ich fühlte mich allein gelassen, abgeschnitten vom Leben anderer.

"Ihr hattet nie ein gutes Verhältnis. Ich wollte dich in deinem neuen Leben nicht beunruhigen und mit Dingen belasten, die dich zurückhalten könnten", sagte sie leise. Ich holte tief Luft und atmete lange aus, als könnte ich damit die Situation etwas erträglicher machen.

"Was bedeutet das Ganze jetzt?" fragte ich. Meine Mutter rutschte unruhig auf ihrem Stuhl umher. Sie schien sich unwohl zu fühlen. "Ich brauche deine Hilfe, Avery."

Ich nickte nur. Eigentlich wusste ich, dass es etwas Ernstes sein musste, aber jetzt wurde es plötzlich Realität. Ich dachte an Florida und mein Leben, das erstmal auf Eis lag. Eine Krankheit wie Demenz war nicht in einer Woche durchstanden, auch nicht in ein paar Monaten. Es könnte sich jahrelang ziehen. Was kann ich nur tun? Ich will nicht hier leben.

Ich sah zu meiner Mutter. Ihr Mund war eine schmale Linie und ihr Gesicht sah alt und ernst aus. Ich liebte sie, aber ich liebte nicht ihn. Ich hasste ihn. Ich konnte und wollte ihn nicht pflegen. Nach allem, was er mir angetan hatte, konnte ich einfach nicht so tun, als wäre ich eine Tochter, die ihren alten Vater liebevoll pflegte.

"Ich weiß, es ist viel verlangt, Avery. Aber ich brauche deine Hilfe, solange, bis ich eine Unterstützung oder eine Pflegekraft zugesichert bekomme. Die Leute auf dem Amt meinten, das könnte sich noch einige Monate ziehen. Ich schaffe es einfach nicht. Meine Kräfte schwinden, das Geld auch."

"Ich werde mindestens zwei Wochen bleiben, Mama. Danach müssen wir weiter schauen. Ich habe einen Job. Ich kann nicht einfach ein paar Monate pausieren", sagte ich. "Ich weiß", erwiderte sie geschlagen. Ich versuchte sie aufmunternd anzulächeln. "Ich werde tun was ich kann in diesen zwei Wochen. Vielleicht finden wir ja schon früher eine Lösung."

Sie erwiderte mein Lächeln ebenso schwach wie meines wohl aussah. Dann schüttete sie den heißen Tee in unsere Tassen. Wir tranken ihn vorsichtig und sahen dabei aus dem Fenster. Wir versanken beide in Gedanken und Sorgen und starrten in den Himmel, der sich langsam düster färbte, um den Regen anzukündigen.

"Magst du ihn sehen?" fragte sie nach einigen Minuten. Ich schluckte schwer. Draußen hörte ich die ersten Regentropfen schwer auf das Fensterbrett prallen. "Ja", flüsterte ich, als könnte ich damit Erinnerungen wecken, die ich lange vor mir selbst bewahrt hatte.

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*Ich habe mit Demenz keinerlei Erfahrungen. Alle Informationen habe ich durch Recherche erhalten. Dadurch kann es zu Fehlern beim entsprechenden Verlauf sowie der eindeutigen Anzeichen der Demenz kommen. Die Krankheit ist ausschließlich im Kontext der Geschichte dieses Buches zu verstehen.

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