32. Kapitel

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Ich holte tief Luft. Ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte. Ich wusste nicht, wo der Anfang und wo das Ende dieser Geschichte lagen. Plötzlich kam es mir so vor, als würde mich niemand richtig verstehen können. Als wäre meine Vergangenheit nichts, was man erzählen konnte, sondern nur ein Gefühl. Pure Wut und Verzweiflung. Ich konnte es nicht richtig deuten. Es kam in mir hoch. Beängstigend und doch wie eine Taubheit, die sich auf mich nieder legte. 

Ethan musterte mich von der Seite. Sein Atem ging ruhig und langsam. Er sah mich einfach nur an. "Ich muss zurück nach Hause", flüsterte ich. Meine Stimme klang seltsam fremd. "Meine Mutter hat mir geschrieben. Sie braucht mich. Dabei weiß ich gar nicht, was los ist. Wir haben kaum Kontakt. Ich bin damals abgehauen, sobald ich meinen Abschluss hatte." 

Es kam mir vor als würde ich wild durcheinander reden. Doch Ethan nickte und gab mir zu verstehen, dass er verstanden hatte. Ich räusperte mich. "Meine Mutter und ich haben ausgemacht, dass sie sich nur meldet, wenn es wirklich wichtig ist. Deswegen weiß ich noch nicht, wann ich wieder zurück kommen werde."

Er nickt erneut und überlegte. "Kann ich dir irgendwie helfen?" fragte er vorsichtig. Ich sah ihn verzweifelt an. "Ich will nicht zurück", krächzte ich. "Ich will nicht zurück!" Jetzt bebte meine Stimme und Tränen stiegen auf. Sie füllten meine Augen und brannten. Ich hatte keine Kraft sie zurückzuhalten. Mein Blickfeld verschwamm und ich konnte nicht mehr sehen. 

"Hey, alles gut", sagte Ethan und rückte näher an mich heran. "Schon gut", murmelte er. Ich spürte, wie er mich in die Arme schloss. Seine Wärme hüllte mich ein, sein Griff gab mir Sicherheit. Ich schluchzte.

Eine Weile saßen wir so da. Ich lehnte mich einfach gegen seinen warmen Körper und spürte wie sein Duft mich entspannen ließ. Mit jedem Atemzug merkte ich, wie sehr ich hier bleiben wollte. Alles, was meinem Leben Sinn verlieh, war hier. In dieser Stadt. 

Ich löste mich von ihm und griff nach der Serviette auf dem Tisch. Schnell wischte ich mir die Tränen unter den Augen weg. Er strich mir eine Strähne hinters Ohr und lächelte sanft. Schnell drehte ich mich weg. Ich hatte ihn nie und doch wollte ich ihn nicht hergeben. Konnte man an etwas festhalten, zu dem man nie gehörte? Definitiv. Schmerzhaft wurde mir genau das bewusst. Egal, wie fern ich mich von ihm halten würde, es würde so oder so weh tun. 

"Warum willst du nicht heim zu deiner Mutter?" fragte Ethan. Ich lehnte mich wieder zurück und starrte auf das Meer, das seinen gleichmäßigen Wellengang nach wie vor beibehalten hatte. "Mein Vater, er -" Ich unterbrach mich und zuckte die Schultern. "Egal." Ich zwang mich zu einem Lächeln, doch es wirkte schief. Ethan sah mich an und ich wusste, er hatte es bemerkt. 

"Dein Vater", fuhr er fort. "Was ist mit ihm? Hat er euch verlassen?" Energisch schüttelte ich den Kopf. "Ich wünschte es", gab ich leise zu. Ich sah im Augenwinkel, dass er überrascht die Augenbrauen hob. "Hat er deine Mutter betrogen?" fragte er weiter. 

"Ethan, verdammt. Er hat MICH scheiße behandelt!" fuhr ich ihn an. Er zuckte zusammen. "Er hat Dinge getan, die ich ihm niemals - NIEMALS - verzeihen werde!" Mein Puls schlug wie wild in meiner Halsschlagader. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ziemlich laut geworden sein musste. Sofort sackte ich in mich zusammen und sah wieder auf das Meer vor uns. 

"Tut mir leid", flüsterte Ethan. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, mir tut es leid. Ich habe einfach keinen Nerv für all das. Ich will hier bleiben und doch kann ich meine Mutter nicht alleine lassen. Ich muss einfach zurück." Ich sah auf den Boden. Weißer Sand lag auf den hellbraunen Dielen. Meine Füße standen parallel zueinander. Alles war so normal, als würden wir nicht gerade hier sitzen und uns Dinge aus unserem Leben erzählen, die wir lieber nie laut ausgesprochen hätten.

Wieder saßen wir nebeneinander und schwiegen. Es schien, als wären wir in einer kleinen Blase, die nur wir beiden betreten hatten. Die Kellnerin kam zu uns. Sie schritt vorsichtig vor unseren Tisch. Bestimmt hatte sie unser ernstes Gespräch mitbekommen. "Guten Morgen! Kann ich euch etwas zu trinken oder essen bringen?" fragte sie höflich und zückte einen kleinen Block und Stift. 

Ich schwieg. "Zwei Wasser bitte", bestellte Ethan. Sie nickte und verschwand. Er atmete laut aus. "Ave, wenn dein Vater dir was antut, kann ich dich nicht alleine dorthin lassen." Ich sah belustigt zu ihm. "Ohne dich habe ich es auch durch meine Kindheit geschafft. Außerdem bin ich jetzt erwachsen. Er kann mir nichts mehr." Obwohl ich versuchte, stark zu klingen, fühlte es sich an als würde ich mir selbst nur Mut zusprechen.

"Kann ich irgendwas für dich tun?" fragte er erneut. Ich schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. "Es ist eigentlich Hilfe genug, wenn ich die Woche frei bekomme", gab ich zu. "Natürlich!" sagte er.

"Und wie geht es mit dir und deiner Verlobten weiter?" fragte ich. Ich musste einfach. Es interessierte mich, ob er so weiter machen würde wie bisher oder ob er tatsächlich den Schritt wagen würde, sich von ihr zu trennen. 

Parker dachte nach. Er schien unentschlossen zu sein und massierte sich mit der rechten seine linke Hand, als müsste er sich beruhigen. Die Kellnerin kam und stellte zwei Wasser vor uns. Wir bedankten uns. Schnell nahm er einen großen Schluck.

"Komm schon Ethan, sei ehrlich. Ich verstehe deine Lage, aber du musst auch mich verstehen. Ich will wissen, was das zwischen uns ist", sagte ich ehrlich. 

Erstaunt sah er mich an. "Zwischen uns?" fragte er. Ich rollte mit den Augen. "Frag nicht so blöd", zischte ich. Er lächelte. "Entschuldigung", sagte er sanft, dann wurde er wieder ernster. "Ich wollte dir das nicht sagen, ehe ich das mit Adelyn geklärt hatte, aber..." Er holte tief Luft. "Ich kann nicht anders, ich-" Wieder stockte er. "Ich habe Gefühle für dich, Avery. Ich hab versucht, sie zu umgehen, aber ich kann einfach nicht."

Ich starrte ihn an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte, er würde mir nun sagen, dass alles für ihn nur eine Spielerei, eine Ablenkung war. Unter anderen Umständen hätte ich mich über seine Worte gefreut. Doch es war zu viel, was noch zwischen uns stand. Sowohl von seiner als auch von meiner Seite. "Ethan, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll."

"Das ist in Ordnung. Du musst auch nichts sagen. Tut mir leid, dass ich dich damit auch noch belaste", sagte er leise in sich hinein. Ich spürte, wie er sich innerlich von mir distanzierte. Erneut nahm er sein Glas und trank diesmal ganz aus. Jetzt oder Nie. "Ethan, mir geht es genau so", sagte ich schnell. "Nur ohne den Teil mit der Verlobten", fügte ich schnell hinzu, was ihm ein verlegenes Grinsen bescherte. 

Wir sahen uns an wie zwei Kinder, die sich ein großes Geheimnis anvertraut hatten. Ich musste lachen. "Schau uns an. Was machen wir hier?" Er seufzte und hob unwissend die Hände. Es fühlte sich seltsam ruhig in mir an. Ich war friedlich, obwohl ich eigentlich keinen Grund dazu hatte. "Ethan, ich werde nicht das fünfte Rad am Wagen spielen. Solange du von Adelyn nicht endgültig getrennt bist, werde ich nichts mit dir anfangen. Und wenn du das mit deiner Verlobten nicht bald regelst, werde ich auch nicht auf dich warten."

Er nickte eilig. "Natürlich! Das erwarte ich auch nicht. Ich weiß noch nicht, wie ich es mit ihr kläre, aber ich werde die Verlobung auflösen", sagte er. Ich sah auf mein Handy. "Mein Zug fährt bald. Ich muss los", stellte ich fest, nahm mein Glas und leerte es in einem Zug. Ethan sah auf einmal traurig aus.

"Darf ich dich noch zum Bahnhof fahren?" fragte er. Ich nickte dankbar.

Mein Körper fühlte sich auf einmal seltsam leer an.

Ich wollte nicht gehen.

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