Mit einem lauten Zischen kam der Zug zum Stehen. Ich hielt meine Tasche fest umklammert, als würde sie mir Halt geben können. "Steigen Sie auch aus?" fragte mich ein älterer Herr. Ich zwang mich zu einem Lächeln und nickte eilig. Er drückte den Knopf und ich half ihm mit seinem Gepäck. Er bedankte sich und lief langsam den Bahnsteig entlang. Es waren nicht viele ausgestiegen, aber alle schienen zu wissen, wohin sie wollten.
Ich stand da und sah mich um. Ein bedrückenden Gefühl legte sich um meinen Brustkorb und nahm mir die Luft. Ich schloss die Augen und bemühte mich um eine gleichmäßige Atmung.
"Avery? Avery Brown?"
Erschrocken riss ich wieder die Augen auf. "Kit?" fragte ich erstaunt. "Avery!" wiederholte er und grinste. "Was machst du denn hier? Lange nicht gesehen!" Er umarmte mich und drückte mich dann wieder mit beiden Händen an den Schultern weg, um mich zu mustern. "Gut siehst du aus!" stellte er nach ein paar merkwürdigen Sekunden fest.
"Danke. Auch schön dich zu sehen", gab ich zurück. Ich war tatsächlich froh ihn zu sehen. Kit war in der Grundschule mein bester Freund gewesen, auf der High School verloren wir uns langsam aus den Augen und als wir den Abschluss hatten, gingen wir auf zwei getrennte Colleges. Wir standen uns mal sehr nah und selbst nach Jahren ohne Kontakt schien es, als wäre nie Zeit vergangen.
"Was machst du hier?" fragte er nochmals. Seine brauen dunklen Augen musterten mich amüsiert als ich versuchte eine weniger kritische Antwort als die Wahrheit zu geben. Gerade wollte ich den Mund aufmachen, da winkte er ab. "Schon gut, du musst es mir auch nicht sagen", bot er an und sah dann auf seine Armbanduhr. Seine dunklen Locken fielen ihm leicht ins Gesicht. Als er wieder zu mir hochschaute, strich er sie locker zur Seite. "Braucht du eine Mitfahrgelegenheit?" fragte er.
Ich nickte dankbar. "Cool. Dann komm mit. Mein Auto steht da drüben." Ich folgte ihm über den verlassenen Parkplatz. Mein Bauch zog sich zusammen. Es kam mir vor als wären all die Erinnerungen an diese Stadt nah und doch fern. Als wäre alles nur ein lebhafter Traum gewesen. So ein Traum, bei dem man sich fragt, ob er nicht doch real gewesen ist. Aber für die Realität fühlte es sich zu weit weg an. Seltsam.
Er deutete auf einen schwarzen Audi. "Hier ist das gute Ding", sagte er und machte eine Präsentier-Geste mit den Händen. Ich grinste und nickte anerkennend. "Da konnte wohl der alte Pick-Up deines Vaters damals nicht mehr mithalten."
"Nein", erwiderte er amüsiert und lud meine Tasche in den Kofferraum. Kurze Zeit später fuhren wir auf die Straße.
Die Stadt hatte sich kaum verändert. Bis auf ein paar wenige neue Häuser und Geschäfte, die sich geändert hatten war alles gleich. "Ich hab gehört, du bist nach Florida gezogen?" stellte Kit fragend fest. Ich nickte und musste unmittelbar lächeln. "Wie ist es da so? Gefällt es dir?" fragte er interessiert weiter.
"Ich liebe es dort. Ich arbeite in einer PR-Firma und mag den Job echt gern. Und ich hab eine sehr gute Freundin gefunden, wir sind zusammen gezogen. Irgendwie ist es echt mein Traum-Leben dort", sagte ich. Ethan tauchte vor meinen inneren Augen auf und ich versuchte, die Gedanken an ihn beiseite zu schieben.
"Freut mich!" Kit schenkte mir ein Lächeln von der Seite und sah dann wieder auf die Straße vor uns. "Und was machst du so?" fragte ich.
"Ach ich hab mit Carter ein Geschäft gegründet", sagte er. Ich hörte den unterdrückten Stolz aus seiner Stimme heraus. "Ohh Kit. Respekt!" sagte ich grinsend. Er lachte. "Ja, das hört sich immer an wie ein riesen Ding, aber eigentlich vermieten wir nur Whirlpools."
Jetzt musste ich auch lachen. "Whirlpools?" wiederholte ich. "Wie kann man die vermieten?"
"Wir haben bestimmte Modelle. Die sind transportabel und man kann sie ganz einfach anstecken. Du glaubst es kaum, aber viele Leute wollen einen Whirlpool nur für einen Tag oder zwei. Sei es für eine Party, Geburtstage oder-" Er schnitt eine Grimasse. "- Flitterwochen daheim."
Ich lachte erneut. "Ist das hygienisch?" fragte ich, in Gedanken an die Verliebten, die in dem Wasser ihr Unwesen trieben. Er nickte. "Wir haben ein gründliches Reinigungsverfahren. Und das Wasser wird komplett abgepumpt. Also keine Sorge."
Er bog um die Ecke, eine Kreuzung vor dem Haus meiner Eltern. Mein Brustkorb zog sich zusammen. "Kannst du bitte kurz anhalten?" fragte ich panisch. Er zog die Augenbrauen nach oben, irritiert von meinem Stimmungswechsel. "Klar", sagte er dennoch und hielt das Auto am Straßenrand.
Ich fuhr mir mit den Händen über mein Haar und atmete tief durch. Einatmen - Ausatmen. Eine Weile saßen wir so da. Ich versuchte verzweifelt, mich zu beruhigen. Mein Herz hingegen hämmerte gegen meine Brust als würde es sich einen Weg nach draußen schlagen wollen.
Ich spürte wie Kit mir eine Hand auf die Schulter legte und mich vorsichtig streichelte. Ich hielt mein Gesicht noch immer in meinen Händen verborgen. Tausend Gedanken und Vorstellungen rasten mir durch den Kopf. Was würde mich nur dort erwarten?
Nach einer gefühlten Ewigkeit sah ich wieder auf. Kit sah mich besorgt an. "Magst du darüber reden?" fragte er leise. "Nicht heute, aber bestimmt irgendwann", gab ich zu. Er nickte verständnisvoll und wartete. "Du kannst weiter fahren. Danke", flüsterte ich.
Nicht einmal eine Minute später standen wir vor dem Haus. Früher kam es mir groß vor. Wie ein dunkelgrauer Riese, der mich erwartete. Doch jetzt sah es seltsam traurig aus. Die Fenster blickten mir müde entgegen und die Tür bildete ein düsteres Portal zu meiner Kindheit. Ich räusperte mich, um wieder zu Sinnen zu kommen. Es ist ein Vorstadt-Haus verdammt. Nicht Godzilla, mahnte ich mich.
"Bereit?" fragte Kit. Ich nickte und öffnete die Beifahrer-Tür. Er nahm meine Tasche von hinten und reichte sie mir. "Kann ich noch irgendwas für dich tun?" bot er an. Ich schüttelte den Kopf und umarmte ihn. Sein Geruch war noch immer vertraut und ich schloss kurz die Augen. "Danke."
Dann drehte ich mich um und sah zu dem Haus. Meine Beine fühlten sich schwer an. Ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Leise lief ich über den Weg durch den Vorgarten und hielt dann vor der Tür. Ich sah auf die Klingel. "Brown" stand mit geraden Buchstaben darunter. Ich atmete tief durch und drückte den Knopf.
Hinter der verschlossenen Tür hörte ich den bekannten Ton der Klingel läuten. Dann Schritte. Jemand drehte den Schüssel im Schloss um. Mit einem Knarren öffnete sich meine Vergangenheit wieder vor mir.
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My Babe
ChickLitAvery Brown lebt ein unscheinbares Leben. Mit 21 Jahren hat sie zwar einen guten Job, eine tolle Wohnung mit ihrer besten Freundin und genug Geld, um das Leben zu genießen, doch ein entscheidender Punkt fehlt ihr: die Liebe. Dass sich ihr beschaulic...