Ich strich über den alten Zeitungsartikel. Er sah gelblich und seltsam verwelkt aus, wenn man das von einem bedruckten Stück Papier sagen konnte. Meine Finger zitterten und ich ballte meine Hand unwillkürlich zur Faust.
Der Titel des Artikels schien sich in die Netzhaut meiner Augen zu brennen.
Mädchen (17) durch eigenen Vater ermordet.
Ich schluckte trocken. Mein Mund schien innerhalb von Sekunden zur Wüste geworden zu sein und der Raum drehte sich allmählich.
Die 17-Jährige Lillian Gramson wurde am Morgen des 29. Septembers von den Nachbarn tot aufgefunden. Ihr Vater (52) gestand den Mord an seiner Tochter kurz nach der Festnahme durch die Polizei. Ermittler sehen die Todesursache durch einen gezielten Stich in...
Ich schloss meine Augen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es passiert war. Ich konnte und wollte mir diese Lily nicht vorstellen.
Ich blätterte um, doch danach war kein Eintrag.
Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf. Antworten, die ich nicht zu Ende denken wollte. Lillian war ermordet worden.
Ich konnte nicht genug Mitleid aufbringen für meinen Vater, doch ein Teil in mir sah ihn mit anderen Augen. Ganz anderen Augen.
Ich verfluchte mich für meine Neugierde.
Wusste meine Mutter davon?
Ich blätterte erneut durch das kleine Buch, scannte die Einträge nach weiteren Informationen und Antworten, doch ich fand nichts.
Meine Gedanken verliefen ins Leere.
Ich stand auf, lief zum Regal und durchsuchte die Bücher. Ich zog sie heraus, blätterte sie durch und legte sie zur Seite. Immer und immer wieder. Vergeblich suchte ich nach Antworten auf Tatsachen, die ich nicht akzeptieren konnte. Wollte.
Mir war es egal, wie laut ich war. Ich durchsuchte das Büro der Person, die ich nie gekannt hatte. Bei der ich nie die Chance bekommen habe, sie kennen zu lernen. Ich zog Schubladen auf und entleerte deren Inhalte. In blinder Verzweiflung nahm ich dem Raum alle Geheimnisse, die er zu verbergen vorgab. Doch ich fand nichts. Nichts, was mir auch nur irgendwas geben konnte. Nichts, was mir auch nur Ansatzweise den Frieden geben konnte, den ich vielleicht schon mein ganzes Leben gesucht hatte. Nichts. Nichts.
Fuck. Fuck. Fuckfuckfuck.
Ich war müde und erschöpft.
Resigniert ließ ich mich zu Boden sinken.
Ich hatte sie nicht gehört und vielleicht hatte ich ihre mögliche Anwesenheit in diesem Raum auch einfach nur vollkommen ausgeschlossen, doch da stand sie. Ihre Hände unsicher an den Stoff ihres Kleides gepresst. Sie verschwamm.
"Mom?" schluchzte ich.
Mir war nicht aufgefallen, dass ich geweint hatte. Oder vielleicht hatte ich auch erst damit angefangen.
"Liebes", sagte sie. Wie immer. Ihre Stimme klang vertraut.
Ich zog die Beine zu mir und umarmte mich selbst, bettete meinen Kopf auf den Armen und versank in mir.
Sie setzte sich neben mich und lag behutsam einen Arm um mich.
Wir saßen so da.
Sie streichelte vorsichtig über meinen Rücken und ich versank in meiner selbst geschaffenen Dunkelheit.
Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen.
Ich hatte nicht die Kraft, doch ich wollte Antworten. Ich hob meinen Kopf.
"Er hatte so viele Liebe-" stockte ich.
"Ich weiß", sagte sie.
"Er hat diese Lillian-"
"Ich weiß."
"Und er war so... so schrecklich zu uns."
Meine Mutter nickte sanft und betrachtete mich mit einem forschenden und mitfühlenden Blick.
"Warum hast du mir nichts erzählt?"
Sie dachte kurz nach.
"Ich weiß es nicht."
"Warum?" fragte ich erneut. Das ist nicht fair, fügte ich in Gedanken hinzu.
"Ich hatte Angst, dass es dadurch wahr wird. Ich hatte Angst, dich zu verlieren und ihn zu verlieren. Ich wollte nur... irgendwie...", sie rang nach Worten. "Ich wollte, diese - unsere - Familie nicht aufgeben."
"Wir waren nie eine Familie!" erwiderte ich laut. Lauter als geplant.
Sie sah mich an. Ihr Blick war noch immer verständnisvoll und ihre Hand ruhte auf meiner Schulter. Ich wand mich und stand auf. Meine Beinen waren wacklig, doch sie versagten nicht ihren Dienst.
"Das hier war ein Scheinleben. Ein scheinbarer Friede oder ...was auch immer das-" Ich machte einen ausschweifende Handbewegung. "- sein sollte. Es war es nicht! Es war nicht das, was ich wollte. Es war nie das, was ich mir gewünscht habe!"
Sie sah zu mir auf. Ihr Blick war ausdruckslos. Müde. Oder ergeben? Ich konnte es nicht einordnen. Meine Emotionen raubten mir die klare Sicht.
"Hast du auch nur jemals mit ihm darüber geredet?" rief ich.
Sie nickte.
"Ich habe es versucht. Aber du kennst Rich-"
"NEIN!" schrie ich.
Und genau das war das verdammte Problem.
"Ich habe ihn nie gekannt!"
Stille.
"Ihr habt mir nie die Wahl gelassen, euch zu kennen!"
Ich schluckte.
Meine Stimme schien zu versagen.
"Meine eigenen Eltern...", flüsterte ich gebrochen und dann rannte ich aus dem Raum, in das Kinderzimmer, das einer Avery gehörte, die ich nie war oder nie sein wollte.
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My Babe
ChickLitAvery Brown lebt ein unscheinbares Leben. Mit 21 Jahren hat sie zwar einen guten Job, eine tolle Wohnung mit ihrer besten Freundin und genug Geld, um das Leben zu genießen, doch ein entscheidender Punkt fehlt ihr: die Liebe. Dass sich ihr beschaulic...