Die Fahrt verging schnell. Viel zu schnell. Ich blinzelte gerade rechtzeitig, um das große Schild zur Ausfahrt zu lesen. Wir waren fast da.
"Guten Morgen, Schlafmütze."
Ich streckte mich und gähnte. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 03:50 Uhr an. Seufzend ließ ich mich wieder in den Sitz sinken.
"Ohja, ich stell's mir anstrengend vor, vier Stunden zu schlafen, während man heim gefahren wird", scherzte Kit und duckte sich spielerisch zur Seite, um meinem, in seine Richtung, aber vollkommen fehlplatzierten Schlag zu entgehen.
Er lächelte und deutete nach vorne. "Ab jetzt brauch ich deine Anweisungen. Ich hab tatsächlich keine Ahnung, in welchem Stadtteil du überhaupt wohnst." Erst jetzt fiel mir auf, dass ich diesen Teil komplett vergessen hatte. "Oh fuck, Kit! Bist du einfach in Richtung Miami gefahren, ohne irgendeine Ahnung?"
Er grinste schief. "Naja, ich hab ein Navi und überraschenderweise kann ich Straßenschilder lesen-" Er hob den Finger. "- trotz dem Vorfall in der 4. Klasse, okay?" Ich lachte. "Arme Miss Dalton. Sie dachte wirklich, du warst kurz davor zu erblinden!" gab ich zurück und hatte direkt wieder das Bild des neunjährigen Kits vor Augen, der unserer Klassenleitung aus Protest klar machen wollte, dass er nicht fähig wäre, Buchstaben zu sehen.
Ich zog mein Handy aus der Hosentasche, das sich dort ungemütlich in meine Hüfte gebohrt hatte und entsperrte es mit routiniertem Tippen. Kit schwieg über den Fakt, dass ich selbst kein Auto besaß und dementsprechend keine Ahnung hatte, wie ich ihn vom Highway aus zu meiner Wohnung navigieren konnte. Dass ich jede S- und U-Bahn Station im 15 Km Radius meiner Wohnung kannte, behielt ich für mich, was aber nicht hieß, dass das kein Talent wäre, okay?
Ich platzierte mein Handy in die Halterung für Getränke und ließ die weibliche Stimme von Google Maps uns durch die ruhigen Straßen eines viel zu frühen Morgens lotsen.
"Magst du mir erzählen, was genau du vor hast? Ich bin gerne dein Partner in Crime, aber du weißt schon, reine Neugierde", murmelte Kit nach einer Weile und warf mir einen Seitenblick zu, der verriet, dass ihm die Frage schon länger auf der Zunge brannte.
Ich versuchte, ihm eine einfache Antwort zu geben. Eine, die sich locker in ein oder zwei Sätze binden ließ, aber als ich versuchte, den Mund zu öffnen, bemerkte ich, wie ich keine Erklärung hatte. Was machte ich eigentlich? Was genau hatte ich vor?
"Ich ähm...Ich will einem, den ich kenne...meinegefühlegestehen."
"Was?" Kit grinste. "Kannst du das nochmal langsamer und laut sagen bitte?" Ich warf ihm einen bösen Blick zu. "Nein", zischte ich. "Ich denke, du hast mich genau verstanden." Um meine Empörung zu unterstreichen, verschränkte ich die Arme vor der Brust. Er lachte.
"Was findest du daran so witzig?" fragte ich beleidigt.
Er schüttelte abwehrend den Kopf. "Nichts, nichts."
Ich richtete mich auf. "Spuck's aus, Kit!"
Er zuckte beiläufig die Schultern. "Naja, seit ich dich kenne hast du wenig Interesse an Beziehungen und sowas. Und generell, ich hab dich nie so richtig offen über Gefühle reden hören. Is' einfach eine neue Seite."
"Ich glaube, es hat sich in den letzten Tagen einiges geändert", gestand ich.
"Ohh hab ich dich inspiriert?" säuselte er gespielt. Ich schnaubte, aber konnte mein Grinsen kaum verstecken. Kit und seine Ich-nehme-alles-und-mich-selbst-nicht-ernst-Einstellung lockerten meine eigenen Gedanken auf.
"Ich glaube, meine Eltern haben mich irgendwie inspiriert", gab ich nach ein paar Sekunden Stille zu.
Er zog eine Augenbraue hoch. "Wie das?"
"Ich denke, ich habe realisiert, dass Schweigen und Stillstand weder sicherer sind noch einen vor Verletzungen bewahren."
Er pfiff anerkennend. "Das nenne ich mal eine gute Lektion."
Ich nickte. Kit hatte Recht. Wenn das das war, was ich aus den letzten Tagen mitnehmen konnte, war die Zeit kein großer Verlust, oder?
Ich wusste, ich würde zurück kommen. Ich würde meine Mutter sehen, mit ihr reden und eine Lösung finden. Aber vorher musste ich Klarheit schaffen. Ich musste Ethan sehen, eine Antwort von ihm bekommen, um weiter machen zu können.
Ich sah aufs Handy. Noch 2 Minuten zum Zielort. Meinem Blick folgend, runzelte Kit die Stirn. "Wow, warte. Fahren wir direkt zu ihm?" fragte er und in seiner Stimme schwang auf einmal Nervosität mit.
"Erstens, nein. Wir sind in keinem Drama, in dem die Hauptfiguren auf magische Weise genau wissen, wo der andere gerade ist und zugegeben, ich habe keine Ahnung, wo er wohnt. Und zweitens, ich habe keinen Plan, was ich ihm sagen will, weshalb ich vorher heim muss", erwiderte ich und fügte noch ein "Ich muss mit Cat reden" hinzu.
"Cat?" fragte Kit. "Ich hab auch immer mit Blacky geredet, wenn ich Rat gebraucht hab. Haustiere sind manchmal die besten Therapeuten."
Ich lachte. "Meine Mitbewohnerin! Cathlyn", stellte ich schnell klar. Er stimmte in mein Lachen ein. "Fuck, ich mach mich hier echt zum Idioten."
"Nichts Neues", grinste ich.
Erst jetzt fiel mir ein wie ähnlich sich die beiden Namen waren. Kit. Cat. Kitty Cat. Nein, in diese Sphären wollte ich nicht denken. Auch wenn beide Namen kompatibel waren, beide spielten in unterschiedlichen Teilen meines Lebens, die ich nicht miteinander verbinden wollte.
Meine Gedanken wanderten automatisch zu Ethan. In meinem alten Kinderzimmer. Auf dem kleinen Bett.
Okay, vielleicht hatten sich diese beiden Teile schon längst miteinander vermischt. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus. Ein warmes Ziehen im Unterleib. Mein Kopf war nicht hilfreich, als er mir die Momente vor Augen führte, als er nahe bei mir stand. Sich unser Atem mischte. Seine dunklen Augen. Sein Blick. Die Hände. Unser Kuss im Pool. Seine Zunge. Sein Körper.
Fuck.
Konzentrier dich, Avery.
Ich räusperte mich. "Hier kannst du parken", sagte ich schnell. Mehr, um mich selbst abzulenken als Kit Anweisungen zu geben. Er lenkte sein Auto in die nächste Parkbucht und sah sich um. Google Maps hatte die Route von selbst beendet und leuchtete uns mit drei Smileys entgegen und der Bitte, die Fahrt zu bewerten. Ich schnappte mein Handy und sperrte es.
"Sieht schön aus!" sagte Kit und wir befreiten uns gleichzeitig mit einem metallischem Klick von unseren Gurten. Ich grinste. "Danke! Magst du mit rauf kommen? Die Fahrt war lang. Du kannst dich gern hinlegen, was essen oder trinken", bot ich an.
Er nickte eifrig. "Sehr gerne!"
Kit trug meinen Koffer und gemeinsam fuhren wir gähnend mit dem Aufzug in meine Etage. Als ich mit meinen Schlüsseln kämpfte, um die Tür zu entsperren, trat er von einem Bein auf das andere.
"Was ist los? Musst du auf's Klo?" fragte ich.
"Nein!" erwiderte er und dann nach einer kurzen Pause: "Naja, jetzt wo du es erwähnst? Ja. Aber, das ist es nicht."
"Was dann, Kit?"
"Ist es denn in Ordnung für deine Mitbewohnerin, dass ich da bin?"
Die Haustür öffnete sich mit einem Klick.
"Für Cat? Ja, ich denke schon. Außerdem ist es sowieso zu spät."
"Zu spät für was?" Cats Stimme klang amüsiert, aber ernst. Ich zuckte zusammen als meine Freundin mit den Händen in die Hüften gestemmt in unserem Flur stand. Sie sah müde aus und blinzelte gegen das Licht an.
"Cat! Was machst du denn wach?" rief ich. Ich wollte auf sie zustürmen, weil ein paar Tage definitiv eine Ewigkeit waren, wenn es darum ging, die beste Freundin nicht zu sehen, doch etwas in ihrem Blick hielt mich zurück. "Cat?" fragte ich vorsichtiger.
Sie seufzte.
"Du wirst nicht ahnen, wer gerade vor einer halben Stunde geklingelt hat."
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My Babe
ChickLitAvery Brown lebt ein unscheinbares Leben. Mit 21 Jahren hat sie zwar einen guten Job, eine tolle Wohnung mit ihrer besten Freundin und genug Geld, um das Leben zu genießen, doch ein entscheidender Punkt fehlt ihr: die Liebe. Dass sich ihr beschaulic...