29. Kapitel

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"Avery?" Parkers gedämpfte Stimme erklang nach nur zwei Freitönen. Die Wut, die vor ein paar Sekunden noch in meinem Bauch war, fand ihren Weg nach oben und mündete in einem "Arschloch" meinerseits.

Ich war überrascht über meine Beschimpfung, aber zufrieden. Auf der anderen Seite der Leitung war Stille. Nur sein Atmen war zu hören.

"Du bist ein Arsch, Ethan", setzte ich nach, um auch sicher zu gehen, dass er mich nicht überhört hatte. Jetzt atmete er ergeben aus. "Ich weiß, Avery. Es tut mir leid."

"Nein, du weißt eben nicht!" Ich war fest entschlossen mir mit seiner Entschuldigung nicht den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen. "Du denkst wohl, du kannst tun und lassen, was du willst. Ich weiß nicht, woher du dir das Recht nimmst, so egozentrisch zu sein!"

Ich merkte, wie schnell mein Herz schlug und wie unregelmäßig mein Atem ging. Unfähig noch etwas hinterher zu setzen, schluckte ich schwer. Meine Sicht wurde verschwommen und ich spürte, wie die Tränen brannten, während sie ihren Weg in meine Augenwinkel suchten. 

Ich blinzelte. "Hast du nichts zu sagen?" fragte ich leise. 

"Ich wüsste nicht, wie ich es dir erklären kann", gab er zurück. Ich nickte, als könnte er mich sehen. "Gut, dann lass mich in Zukunft in Frieden!"

Mit diesen Worten legte ich auf. Verzweifelt, aber irgendwie erleichtert lehnte ich mich an die Hauswand, um noch ein paar Mal tief durchzuatmen, ehe ich wieder zu den anderen zurück ging.

Ich hatte Clara und John nichts erzählt. Trotz des Alkohols besann ich mich eines Besseren als andere in meine Dramatik mit Parker einzuweihen. Je weniger davon wussten, desto besser. Der Abend verlief nach dem Telefonat mit ihm auch wesentlich unbeschwerter. Ich hatte Ballast abgeworfen und es fühlte sich gut an. 

Am Donnerstagabend reisten wir zurück. Ethan saß im Flugzeug neben seiner Verlobten, aber die beiden schienen kein Wort zu wechseln. Ich saß wieder bei Clara, John hinter uns. Auf Grund der späten Rückreise hatten wir alle den Freitag frei bekommen und ich war froh über das verlängerte Wochenende und den Abstand zur Arbeit und Parker.

Wir verabschiedeten uns am Flughafen in Miami und stiegen in die Taxen heim. John und Clara wohnten in der entgegengesetzten Richtung von mir und teilten sich eins. Ich war froh, allein zu sein. Während das Auto vom Parkplatz fuhr, sah ich Ethan und Adelyn auf ihren Fahrer warten. Sie standen nebeneinander. Er telefonierte und sie tippte etwas in ihr Handy. Ich drehte mich wieder nach vorn und beobachtete die Lichter, die sich in der zunehmenden Dunkelheit schärfer abzeichneten. "Lange Reise gehabt?" fragte der Fahrer. "Nicht lang, aber anstrengend", sagte ich und lächelte. 

Zwanzig Minuten später stand ich wieder vor der Wohnungstür von Cat und mir. Ich konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen und ihr alles zu berichten. Ich steckte den Schlüssel ins Loch und drehte um. Der bekannte Geruch stieg mir in die Nase und meine Muskeln entspannten sich wie von selbst.

"Honey, I'm home!" trällerte ich gut gelaunt in den Flur. Ich schloss die Tür hinter mir und streifte Jacke und Schuhe ab. Meinen Koffer ließ ich stehen. Das Ausräumen hatte Zeit.

Cat sprang um die Ecke und strahlte mich an. "Ave!" quieckte sie und fiel mir um den Hals. "Ich hab dich so vermisst!" Ich grinste und erwiderte ihre Umarmung. "Und ich dich erst!"

Wir bestellten Pizza und kuschelten uns auf dem Sofa in die Decke. "Wie war die Reise?" fragte sie aufgeregt. Ich erzählte ihr das Allgemeine. Von den Meetings, den Sponsoren und natürlich von Clara und John. Sie lächelte als ich sie beschrieb. Ich war mir sicher, dass auch meine beste Freundin die beiden ins Herz schließen würde. 

"Klingt nach einer gelungenen Reise", bemerkte Cat und grinste. Sie betrachtete mich genauer, als wüsste sie genau, welche Details ich ausgelassen hatte. "Denk ja nicht, mir ist nicht aufgefallen, dass du kein Wort von der Hauptperson erwähnt hast!" mahnte sie mich. "Hauptperson?" wiederholte ich amüsiert.

"Ethan Parker. Du weißt genau, wen ich meine!"

Ich wurde rot und musste mir ein Lachen verkneifen. Cat würde nicht ruhen, ehe sie jedes noch so kleine Detail aus mir herausgequetscht hatte. Ich holte tief Luft, um ihr alles genau zu erzählen.

Während ich begann von Ethans inoffizieller Einladung zum morgendlichen Schwimmen zu berichten, zappelte Cat nervös herum. Sie konnte es kaum abwarten. Und als ich ihr von dem Kuss erzählte, konnte sie nicht an sich halten und schrie ein "Hab ich's doch gewusst!". Ich versuchte, sie zu beruhigen, ehe ich mit dem unangenehmsten Teil fortfuhr: der Tatsache, dass er verlobt war. Meine Freundin starrte mich entsetzt an. 

"Nicht dein Ernst", flüsterte sie. Ich fand die Situation so unangenehm, dass ich Lachen musste. Es war unpassend, aber half mir den ganzen Druck loszuwerden. "Dieser..." setzte sie an und ich nickte. "Hab ich ihm auch am Telefon gesagt." 

Cat musste grinsen. "Du hast deinem Chef gesagt, dass er ein Wichser ist?" fragte sie. "Ja, so ähnlich. Ich meinte, er ist ein Arsch und dass ich nichts mehr von ihm wissen will", sagte ich. Sie zeigte mir einen Daumen hoch. "Perfekt, Ave! Ich bin stolz auf dich!"

In dem Moment klingelte es an der Tür. "Pizza!" rief Cat und sprang auf. Ich lief mit zur Tür. Sie tauschte Geld gegen den großen warmen Pizza-Karton. Als der Bote weg war, drehten wir uns wieder um, als mein Blick auf das Sideboard im Flur fiel. Ein kleiner Brief lag darauf.

"Was ist das?" fragte ich Cat. Die balancierte das Essen auf einer Hand an mir vorbei und folgte meinem Blick. "Ach das. Das kam vor zwei Tagen mit der Post. Ist an dich adressiert."

Ich blieb wie versteinert stehen. Avery Brown stand mit geschwungener Tinte darauf. Ich spürte, wie ich zittrig nach Luft schnappte. "Ich komm gleich", rief ich zu Cat, die bereits in der Küche verschwunden war. 

Meine Handflächen waren feucht, als ich den Brief in die Hände nahm. Vorsichtig öffnete ich ihn. Ein kleiner Zettel lag darin. Bitte komm zurück, Ich brauche deine Hilfe. 

Ich las die Zeilen wieder und wieder. Komm zurück. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Komm zurück.

Der Brief hatte weder Absender noch Unterschrift, doch ich wusste genau, wer es war. 

"Mom", flüsterte ich.

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