44. Kapitel

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Oktober 1968

Wir haben uns geküsst. Wie wird je ein Tag, ein Augenblick, ein Moment in meinem Leben die Chance haben, besser zu sein als dieser? Ich glaube es nicht, Lily. Ich kann nicht glauben, mein Glück in dir gefunden zu haben. Es fühlt sich wie eine Bestimmung an, die wahr wurde. 

Ich verzog das Gesicht bei den Zeilen. Zwei Dinge waren mir zuwider. Erstens, der Kitsch. Wäre daraus ein Buch gemacht worden, hätte ich es nach der ersten Seite in die Ecke geworfen. Zweitens, die Tatsache mir vorzustellen, dass mein Vater, der Tyrann meiner Jugend, solche Zeilen verfasst haben sollte. 

Ich blätterte weiter. Die nächsten Seiten waren eine Sammlung von Liebeserklärungen. 

November 1968 

Du bist alles, was ich mir je erträumen konnte.

Dezember 1968

Lily, ich werde niemals von dir los kommen. Ich bete zu Gott, er möge Gnade mit mir haben und mir ein langes Leben mit dir an meiner Seite schenken. Auf ewig.

Ich seufzte. Wer auch immer er zu dieser Zeit gewesen war, ich hatte diesen Richard nie kennen gelernt. Er war eiskalt zu mir gewesen. Nicht einmal ansatzweise hatte er ein Gefühl von Liebe an mich verschwendet. Ich merkte, wie ein Gefühl in mir auf kam, das ich verabscheute. Es war Neid. Purer Neid. Wer auch immer diese Lillian gewesen war, was sie auch immer getan hatte, sie musste der Grund gewesen sein, dass sie alle Liebe aus meinem Vater wie ein Parasit ausgesaugt hatte

Ich spannte den Kiefer an. Wut mischte sich unter und bildete einen gefährlich handlungsmotivierten Wunsch, sofort gegen diese Lillian vorzugehen. Ich würde sie finden und zur Rede stellen. 

Während mein Kopf tausend neue Fragen, Bilder und Gefühle umher warf, starrten meine Augen blind an die Wand. Ein paar Sekunden verstrichen. Ich blinzelte und holte mich durch diese menschliche Handlung wieder in die Gegenwart. 

Das Buch lag schuldlos auf meinem Schoß. Geöffnet, um mir eine Geschichte preiszugeben, für die ich vielleicht noch gar nicht bereit war. Aber wann würde ich es jemals sein?

Ich senkte den Kopf, las und blätterte weiter. 

Februar 1969

Ich habe eine Stelle bei der Anwaltskanzlei in unserem Dorf bekommen! Ich weiß jetzt, dass wir uns gemeinsam etwas aufbauen können. Wir. Nur wir zwei, Lily. Ich werde hart arbeiten und Geld sparen. Ich werde dir einen Ring kaufen, deine Eltern um Erlaubnis bitten und um deine Hand anhalten. Ich werde dir die Welt zu Füßen legen, Lily. Damit du weg von deinen Eltern kommst, so wie du es dir immer gewünscht hast. 

April 1969

Du hast mir erzählt, sie mögen mich nicht. Ich mag vielleicht aus einfachen Verhältnissen kommen, aber ich arbeite hart. Ich habe den besten Schulabschluss bekommen. Ich habe eine Ausbildungsstelle erhalten. Ich hasse es, dass sie uns trennen wollen, Lily. Deine Eltern haben kein Recht dazu, unser Glück zu zerstören. Ich werde arbeiten, ich werde sparen und dann sind wir hier weg. Ich verspreche es dir!

Mai 1969

Ich habe mit dir schlafen dürfen. Geliebt haben wir uns in dieser Nacht des Maifestes. Der Sex mit dir war schöner als ich mir - 

Ich klappte reflexartig das Buch zu und bat mein Hirn die Bilder wieder zu löschen. Doch jetzt waren sie da. Schön, Richard hatte mit einer Lily aus dem Dorf geschlafen und ich darf das jetzt gute 55 Jahre später lesen. Große Klasse. 

Doch irgendetwas fesselte mich an der Geschichte. Ich wollte wissen, wie das ausging. Was war passiert, dass mein Vater die Liebe seines Lebens verloren hatte?

Ich zwang mich ein paar Zeilen der Liebesnacht zu überspringen und las weiter. 

Ich werde nächstes Jahr mehr verdienen. Dann können wir uns eine kleine Wohnung gemeinsam mieten. Du darfst dann machen, was du willst. Du darfst jeden Tag singen und die Vögel auf dem Hauptplatz füttern. Du darfst werden was du willst, Lily. Das verspreche ich dir. 

Juni 1969

Du hast dich fürchterlich mit deinem Vater gestritten. Er hat dich geschlagen und du bist zu mir gerannt. Ich konnte nicht fassen, was er gesagt hat. Einen Stadtjungen sollst du heiraten! Er kann dir nicht vorschreiben, wen du zu lieben hast! Die Zeiten liegen hinter uns. Ich hasse ihn, Lillian, ich hasse ihn so sehr. Ich habe deine Wange gekühlt und dir wieder geschworen, dass wir bald weg von hier sind. Er wird dich nicht mehr anfassen können.

Juli 1969

Du hast es mir erzählt. Fast zwei Monate sind vergangen, seit wir das erste Mal miteinander geschlafen haben und jetzt gibt es keine Ungewissheit. Du wirst ein Kind von mir zur Welt bringen. Wir haben uns in die örtliche Apotheke geschlichen, damit uns niemand sieht. Während du den Verkäufer abgelenkt hast, habe ich den Test geklaut. Du hast ihn hier gemacht. Er ist positiv. Ich habe nicht genug Geld, aber irgendwie schaffen wir das. Wir schaffen das gemeinsam, Lily. Ich schwöre auf mein Leben. Ein größeres Geschenk konntest du mir nicht machen. 

Ungläubig las ich den letzten Eintrag noch einmal. Mein Vater hatte diese Lillian geschwängert? Mein Mund klappte auf als ich über die Konsequenzen nachdachte. Das müsste ja heißen, ich hatte eine ältere Stiefschwester. Dieser... Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Mein Vater hatte mir alles verschwiegen. Nie hat er mir auch nur das Geringste anvertraut. 

Ich fragte mich, ob meine Mutter davon wusste, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie auch nur die geringste Ahnung hatte. So wie Richard sein Arbeitszimmer vor uns beiden gehütet hatte, als ginge es um Leben und Tod, konnte er nur Geheimnisse auch vor ihr gehabt haben.

August 1969

Ein leichter Bauch wölbt sich unter deinem gelbem Sommerkleid. Du versteckst ihn zu jeder Sekunde, hütest ihn wie der Schatz, der er ist. Unser gemeinsamer Schatz. Ich habe einen Wochenend-Job angenommen und helfe auf dem Markt beim Obststand von Frau Merry. Damit verdiene ich etwas mehr Geld. Schon bald, wenn dein Bauch zu groß zum Verstecken ist, hauen wir ab. Wir haben darüber gesprochen. Es wird Ende September soweit sein. Dann hole ich dich nachts von zuhause ab. Du wirfst deinen Koffer zu mir aus dem Fenster und schleichst dich dann hinaus. Ich stehe bereit. Bereit, mit dir ein neues Leben anzufangen, Lily. 

Ich spürte, wie ich ungeduldig wurde. Ich las schneller und die Zeilen verschwammen fast vor meinen Augen. Was war nur passiert? Die Wut auf diese Lillian hatte sich verzogen. Sie wollte weg. Sie wollte ihr Glück wo anders finden. Ich verstand sie nur zu gut. 

September 1969

Es ist Anfang September, Lily. Ende diesen Monats wollen wir weg. Die Leute tuscheln schon. Du sagst du isst gern viel, ja, das tust du zur Zeit natürlich auch, aber sie dürfen nicht denken, nicht ahnen, was wirklich der Grund ist. Dein Bauch ist deutlich gewölbter als sonst. Vermutlich wird dir jetzt deine schlanke Figur zum Verhängnis. Du bist bald in Sicherheit. Das schwöre ich dir. 

September 1969

Nur noch zehn Tage bis zu unserer Flucht. Ja, ich nenne es Flucht, Lily. Ein anderes Wort beschreibt es nicht mehr. Dein Vater ist ein Monster. Er hat dich dem Stadtjungen vorgestellt. Diesem schmierigen, selbstverliebten Kerl. Ich hasse ihn. Er trägt Polohemden und fährt das rote Cabrio seines Vaters. Er hat keine Ahnung vom Leben. Und so jemanden sollst du heiraten? Deinem Vater geht es nur um das Geld. Ich hasse ihn. Du hast ihm gesagt, du bist glücklich mit mir. Er hat dich angeschrien und für den Rest des Tages in das Bad gesperrt. Ich bin gestorben vor Sorge, Lily. Ich schwöre dir, bald sind wir auch dieses Ungeheuer los. 

Ich blätterte die nächste Seite um. Doch da war kein Eintrag, wie ich es erwartet hatte. Ich starrte die Seite an oder vielmehr das, was darin eingeklebt war. Das Blut wich aus meinem Gesicht und der Raum begann sich gefährlich zu drehen. 

Und dann, dann machte alles einen Sinn. 

My BabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt