42. Kapitel

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Am Freitag begleitete ich meine Mutter zum Arzt. Mein Vater wurde umständlich untersucht. Vieles wehrte er anfangs ab und konnte nur mit gutem Zureden dazu gebracht werden, mitzumachen. 

Dr. Graham stellte ihm einige Fragen, notierte sich etwas und sah zu uns. 

"Wie sieht es aus?" fragte meine Mutter. Er runzelte die Stirn und blickte zu Richard und dann zu uns. 

"Er baut rapide ab", antwortete er ohne Umschweife. "Es gibt Patienten, die mehr oder weniger ohne größere gesundheitliche Probleme jahrelang mit Demenz leben können. Dann gibt es aber auch jene Fälle, die rasant abbauen mit gesundheitlichen Begleiterkrankungen. Mister Brown hat in den letzten Wochen ganze vier Kilogramm verloren. Das ist überdurchschnittlich viel. Isst er denn genug?"

Meine Mutter fasste sich erschrocken an den Mund und überlegte. "Er hat deutlich weniger Appetit. Wir essen oft zusammen. Ich beobachte ihn auch dabei."

"Isst er alles auf?" fragte Graham. 

Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Er wird auch wütend, sobald ich versuche, ihm Essen einzugeben oder zum Weiteressen zu animieren."

Der Doktor nickte verständnisvoll und schrieb etwas auf seine Unterlagen. 

"Wie sieht es mit seiner Aktivität aus?" fragte er anschließend.

"Er blättert gern in den Zeitungen, räumt das Zimmer um und läuft viel, vor allem im ersten Stock. Die Treppen meidet er manchmal."

Wieder nickte er. Dann lehnte er sich gegen seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme. "Habt ihr euch schon mal nach einem Pflegeheim umgeschaut?" fragte er vorsichtig. 

Ich sah zu meiner Mutter. Die schüttelte den Kopf. "Nein, das wäre finanziell nicht möglich", gestand sie und sah zu mir. "Ich bin ja da", ergänzte sie. 

"Warum ist dann Avery hier?" fragte Graham gerade heraus. Bevor wir beide etwas erwidern konnten, fügte er an meine Mutter gewandt hinzu: "Weil du Hilfe brauchst?"

Sie sah zu Boden. "Ja, ich habe ihr geschrieben."

Richtig dramatisch einen Brief geschickt hat sie mir, fügte ich in Gedanken hinzu.

"Ich kann einen befreundeten Arzt fragen. Er ist der Arzt in einem Pflegeheim ganz in der Nähe. Sie nehmen immer wieder neue Patienten auf", schlug Dr. Graham vor. 

Meine Mutter schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, das kann ich mir nicht leisten."

"Margaret", sagte Graham leise. "Du bist nicht allein. Ich kann dir helfen."

Sind eigentlich Kit und sein Vater sowas wie Heilige? fragte ich mich, fand aber den Vorschlag recht gut. Kits Mutter war vor vielen Jahren gestorben, als Kit noch sehr jung war. Mister Graham hatte danach nie wieder geheiratet. Als alleinstehender Arzt dürfte er finanziell abgesichert sein. Außerdem bemerkte ich sowas wie eine Anziehung zwischen den beiden. Ich würde es ihnen gönnen. Egal, wie absurd die Situation mit meinem kranken Vater war. Selbst Schuld war er, dachte ich mir.

Meine Mutter lehnte dankbar ab. Graham stützte sich vom Tisch ab und schlug die Akte meines Vaters zu. "Das war kein Angebot."

"Alsoo", schaltete ich mich ein. "Ich könnte dir auch einen Anteil meines Gehalts überweisen. Ich denke, zu dritt könnten wir das schaffen."

Dr. Graham nickte mir zustimmend zu. "Seh ich auch so."

Wir sahen uns zufrieden an, nur meine Mutter schien nicht begeistert von diesem Plan zu sein. "Lass es dir einfach mal durch den Kopf gehen, Grete", schlug er vor. Ich verkniff mir ein Lachen bei diesem Spitznamen. Aber irgendwie fand ich es süß. Mein Vater wäre niemals auf die Idee gekommen, ihr auch nur einen Kosenamen zu geben. Fast 40 Jahre Ehe waren für ihn nie Grund genug dafür gewesen. 

Meine Mutter lächelte verlegen und stimmte erstmal zu. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Vielleicht würde mein Leben schon bald wieder in normale Bahnen verlaufen. 

Aus dem Nichts erhob sich mein Vater und lief zur Tür, um sie zu öffnen. Meine Mutter hastete ihm nach. "Alles gut, wir sind fertig. Ich schicke dir die Unterlagen zum Heim zu und erkundige mich bei meinem Freund", sagte der Doktor. 

Meine Mutter bedankte sich, holte die Jacke von meinem Vater und lief diesem in den Flur nach. 

"Danke, Dr. Graham", sagte ich, als die beiden den Raum verlassen hatten. "Ich schätze das wirklich sehr."

Er nickte. "Natürlich. Das mache ich gern. Deine Mutter ist eine tolle Frau." Ich stimmte dem zu. Er hatte Recht und endlich schien es einen Mann zu geben, der ihre Art schätzte. Mein Vater hatte sie immer nur als 'schwach' bezeichnet. Doch ihre liebevolle und kümmernde Art war alles andere als das. 

Ich drehte mich um und wollte aus der Tür gehen, als Dr. Graham sagte: "Hast du mit Kit in letzter Zeit gesprochen?"

Ich blieb stehen und wägte ab, ob unser Gespräch in den Begriff 'letzter Zeit' passte, doch dann stimmte ich zu. "Ja, wieso?"

"Ich weiß nicht, er verhält sich irgendwie etwas merkwürdig die letzten Tage. Ich dachte, vielleicht weißt du ja was."

Ich spürte, wie Unbehagen in mir aufkam.

"Hat er irgendwas gesagt?" fragte ich stattdessen. 

Er schüttelte den Kopf. "Nein, leider nicht. Er hatte eigentlich vor, wegzufahren die nächsten Wochen. Er wollte Kundengespräche in anderen Städten führen, sein Geschäft erweitern. Aber danke, Avery. Wenn du was weißt, würde ich mich freuen, wenn du es mir sagst."

Ich nickte schnell und verabschiedete mich, um meinen Eltern hinterher zu laufen, die bereits eine kleine Auseinandersetzung am Ausgang hatten, ob es nun notwendig wäre, eine Jacke anzuziehen oder nicht. 

Als wir heimkamen, verschwand mein Vater wieder nach oben. 

"Nervt er dich nicht total?" fragte ich meine Mutter. Sie lächelte schwach. "Ave mein Schatz, er ist krank."

"Ich weiß, aber er ist immer noch...Richard", sagte ich. 

Sie nickte. "Ich weiß, aber er kann nichts für diese Krankheit. Niemand kann etwas dafür."

"Ja, aber er kann etwas für seinen Charakter und die Dinge, die er dir - uns - angetan hat", erwiderte ich. 

"Ave, er ist ein Kind seiner Zeit", erklärte meine Mutter. "Er hatte keine sonderlich gute Kindheit. Vielleicht redest du mal mit ihm, solange er noch klare Momente hat."

Ich schnaubte. "Entschuldigen kann man nicht jedes Verhalten. Er hätte sich zumindest bessern können. Zumindest probieren hätte er es können, es besser zu machen."

"Ich bin auch oft wütend, Ave. Ich bin oft verzweifelt und ganz oft bin ich wütend auf mich selbst. Oftmals ist Zorn auf andere darin begründet, dass wir uns wünschten, sie hätten etwas getan, was wir eigentlich für uns selbst hätten tun müssen." 

Sie überlegte, ehe sie fortfuhr. "Du musst dir nur überlegen, wie viel Macht du ihm jetzt dafür geben möchtest, was er in der Vergangenheit getan hat. Deine Wut ist berechtigt, doch vielleicht hilft es dir, sie nicht mehr ganz so viel Platz in deinem Herzen einnehmen zu lassen."

"Ich hab keine Ahnung, wie ich das alles vergessen soll, was er getan hat", gab ich leise zu. 

Sie schüttelte den Kopf. "Darum geht es nicht. Das Leben lehrt uns Dinge zu verzeihen, die man eben nicht vergessen kann." 

My BabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt