"Letzter Halt: Foreign Road. Bitte alle Fahrgäste aussteigen." Die Ansage im Bus riss mich abrupt aus meinen Gedanken und versetzte mir einen Stoß zurück in die Gegenwart. Ich blinzelte und nahm meine Umgebung wieder wahr. Die Busfahrt hatte 45 Minuten gedauert, zugegeben länger als ich erwartet hatte. Erst jetzt bemerkte ich die etwas herunter gekommenen Häuser und die triste Atmosphäre, die aus jeder Ecke des Stadtteils zu spüren war. Ich war noch nie so weit aus dem Stadtzentrum gefahren und schämte mich in dem Moment, dass ich Teil einer höheren Gesellschaftsschicht war und damit nie in den direkten Kontakt mit Ärmeren gekommen war. Der verstohlene Blick des Busfahrers durch seinen Rückspiegel in den Bus ließ mich vermuten, dass ich das auch nach Außen ausstrahlte. Unwillkürlich ließ ich meine Kette in meinem Oberteil verschwinden. Warum hab ich mich dafür bereit erklärt? fragte ich mich und spürte, wie stiller Zorn in mir aufkam. Auf mich, auf Mike, auf Sam. Aber vor allem auf mich. Ich bin kein Babysitter, aber habe natürlich sofort zugesagt, mit Mike zu reden. Toll gemacht Ave, wirklich toll. Der Bus kam zum Stehen und ich erhob mich, gemeinsam mit zwei weitern Fahrgästen. Mit einem lauten Zischen öffneten sich die Türen und ich stieg in die mir unbekannte Umgebung. Es war noch nicht dunkel, aber es dämmerte und die Sonne tauchte alles in ein warmes Dunkelorange. Die Luft roch abgestanden, aber vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Ich sah auf mein Handy und aktivierte das Navi. Von hier aus müssten es nur 5 Gehminuten zum Motel sein. Die Route wurde berechnet und schon gleich kam der Befehl "In 200 Meter nach rechts". Ich setzte mich in Bewegung. Ich wollte das so schnell wie möglich hinter mich bringen. Warum bin ich auch alleine hier her? Die Straße schien verlassen zu sein. Nur der Bus rumpelte an mir vorbei und blies mir eine heiße Abgaswolke ins Gesicht, die ich mit einem schnellen Luftanhalten und Wegdrehen quittierte. Ein paar Männer standen vor einem Pub, das seine besten Tage wohl auch schon hinter sich hatte. Sie unterhielten sich angeregt und lachten ausgelassen. Ihrer langsamen Aussprache nach zu urteilen, schienen sie bereits betrunken zu sein. Ich wendete den Blick schnell ab und verschwand nach rechts in die mir vorgegebene Straße. Da sah ich es schon, auf der linken Straßenseite in etwas Entfernung. "MOTEL INN" darunter blinkte etwas in grüner Schrift, das ich auf die Distanz nicht erkennen konnte. "Na also", murmelte ich und beendete mein Handy-Navi. Trotzdem ließ ich mein iPhone nicht aus der Hand. Ich hielt es fest an mich gepresst, fast so als könne es mich aus jeder unbehaglichen Situation teleportieren. Als würde die bloße Anwesenheit eines Handys einen Täter fern halten. Immerhin könnte ich die Polizei rufen, redete ich mir zu, wobei auch dieser Gedanke bei einem Überfall absurd war. Schnellen Schrittes lief ich auf das Motel zu. Sam hatte mir auch die Zimmernummer genannt, weshalb ich an dem Mann hinter dem Empfangshäuschen vorbei laufen konnte. Er hob nicht mal seinen Kopf vom Zeitungsartikel, über den er sich gebeugt hatte. Mit einer Hand zog er seitlich an einer Zigarette und blies den Rauch von sich, ohne auch nur zu blinzeln. Ich überquerte den kleinen Parkplatz und lief auf eine Treppe zu, die in der Mitte des Motels nach oben führte. 107 war seine Zimmernummer, die ich sofort auf der linken Seite fand. Alles hier schien wie verlassen zu sein. Ich fühlte mich unmittelbar in einen Krimi versetzt, in dem genau solche Szenen zu nichts Gutem führten.
Ich holte tief Luft und Klopfte. Abwarten. Innerlich zählte ich bis 10 und beschloss, erneut zu klopfen. Diesmal lauter. Meine Knöchel auf der alten Holztür waren das einzige Geräusch, das ich hören konnte. "Mike?" fragte ich, an die Tür gelehnt. "Bist du da drin?" Ich legte ein Ohr an, um zu lauschen. Nichts. "Ich bin's Avery. Bitte mach auf!" probierte ich es erneut. Stille. Natoll, dachte ich mir und wollte mich gerade abwenden, als ich einen schwarzen Umriss erkannte. Ich erschrak und zuckte zurück. Erst jetzt konnte ich eine kleine bucklige Gestalt ausmachen, die anscheinend schon die ganze Zeit nicht mal fünf Meter von mir entfernt stand. "Scheiße man", fluchte ich leise und fasste mir an mein Herz, das wie wild gegen meine Handfläche klopfte. "Sie haben mich erschreckt", sagte ich und versuchte, den alten Mann anzulächeln. Er betrachtete mich aus kühlen Augen heraus. Seine Kleidung war in Schwarz und Dunkelbraun gehalten, sein weißes Haar war unter einem Hut verdeckt und schaute zu beiden Seiten heraus. Sein Gesicht lag im Schatten. Lediglich seine nach unten verzogenen Mundwinkel wurde von der Abendsonne erleuchtet. Er stützte sich auf einem Gehstock ab. "Suchen Sie Mike Warden?" krächzte er und zeigte mit einem knöchernen Finger auf die Tür, an der ich gerade geklopft hatte. Ich nickte. "Ja. Wissen Sie, wo er ist?" Der Mann blickte mich an und schien abzuwägen, was er sagen sollte. Seine Augen funkelten misstrauisch, doch sagte er: "Mike ist jeden Abend im Teasers". Ich sah ihn irritiert an. "Teasers?" fragte ich. Jetzt lächelte er schwach. "Mädchen, du solltest auf dich aufpassen", gab er zurück und drehte sich schwerfällig um. Mit seinem Stock als Stützte entfernte er sich langsam. Ich wollte ihm nicht nachlaufen. Offensichtlich hatte er mir bereits alles gesagt, was er sagen wollte. Also entsperrte ich mein Handy und suchte die Karte nach "Teasers" in der Umgebung ab. "Nicht dein Ernst Mike", stöhnte ich auf und sah, dass das Teasers zwar gleich hinter dem Motel lag, aber es auch ein Stripclub war. Ich beschloss trotzdem, Mike aufzusuchen. Schließlich bin ich nicht umsonst hierher gekommen. Ich lief erneut die Treppe runter und auf die Straße. Tatsächlich. Das Teasers war ein einstöckiges Gebäude. Komplett in schwarz. Es sah unscheinbar aus und nicht viel ließ vermuten, dass es sich hierbei um einen Stripclub handelte. Lediglich ein Mann stand vor dem Eingang, der mit zwei schweren roten Vorhängen bedeckt war. Alle Fenster waren abgedeckt. Als ich näher kam, hörte ich die Musik von innen dröhnen. Der Türsteher lächelte mich an und schob seine Sonnebrille nach unten. Zwei blaue Augen wurden frei gelegt. Er musterte mich amüsiert. "Na Kleine, dein erster Tag hier?" rief er mir zu. Ich ließ mein Handy in die Hosentasche gleiten und verschränkte die Arme vor der Brust. "Nein, ich.." Ich sah ihn an. Er richtete sich auf und schien plötzlich weniger gut gesinnt zu sein. "Du willst doch wohl keinen Ärger machen?" fragte er. Ich schüttelte schnell den Kopf. "Wenn dein Mann da drin ist-" begann er, doch ich schnitt ihm das Wort ab. "Ich bin hier, um mich zu bewerben", sprudelte es aus mir heraus. Er stupste mit einem Finger seine Sonnenbrille wieder auf dem Nasenrücken nach oben. Dann trat er beiseite und öffnete einen Vorhang für mich. "Na dann, rein mit dir", sagte er. Ich huschte an ihm vorbei und stieß die schwere Tür auf. Sofort umhüllte starker Bass mich und vibrierte in meinen Ohren. Ich sah mich um. Für die Uhrzeit war es wohl noch etwas zu früh. Die Bar wurde von einer leicht bekleideten Frau geputzt. Die Bühne in der Mitte des Raumes, wurde nur von einer einzigen Frau im Bikini und hohen Absätzen betanzt. Sie räkelte sich lustlos an einer der drei Stangen. Vor ihr saß ein Mann, der ein großes Bier vor sich stehen hatte. Er schein etwas zu zählen. Ich wusste nicht, ob es Geld oder Stripdollar waren, die man an einem Automaten in der Ecke erwerben konnte. Enttäuscht wollte ich mich gerade wieder Richtung Ausgang drehen, da bemerkte ich eine Bewegung in einer abgeschiedenen Ecke. Mike. Definitiv. Ich erkannte sein Gesicht. Auch wenn es dem Mike, den ich kannte, nicht ähnelte. Er sah fertig und abwesend aus. Da mich die zwei Frauen nicht beachteten, lief ich auf ihn zu. Er schien nicht mal zu bemerken, dass sich jemand neben ihn setzte. "Mike?" fragte ich. Die Person neben mir hatte beide Hände um ein leeres Glas gelegt und starrte hinein. "Mike!" ich legte vorsichtig eine Hand auf seine Schulter. Langsam hob er die Augen und starrte mit gläsernem Blick geradeaus. Die Frau, die tanzte öffnete in einem Zug ihr Oberteil und ließ es zu Boden fallen. Der Mann vor ihr lachte und ließ ein paar Scheine fliegen. Mike grinste und nickte. Gerade so als wäre er Teil des Ganzen. Ich rüttelte ihn leicht. "Mike!" Sein Blick schien sich zu klären und er richtete ihn auf mich. Ein paar Sekunden starrte er mich an, dann begriff er. "Ave!" flüsterte er. "Was tust du hier?" Ich sah wie Scham in ihm aufkam, der aber sogleich durch seinen Rauch unterdrückt wurde. Gleichgültig lehnte er sich zurück und lächelte besonnen. "Ach Ave", murmelte er. "Mike, Komm bitte mit mir. Ich muss mit dir reden!" sagte ich laut und deutlich an sein Ohr, in der Hoffnung meine Worte könnten sich durch die Benommenheit in sein Bewusstsein boxen. Er blickte mich an und nickte schließlich. Erleichtert atmete ich auf. Als Mike sich erhob, schwankte er bedrohlich. Schnell legte ich einen Arm um seine Hüfte. Dankbar legte er einen Arm um meine Schultern und ließ sich von mir nach draußen bugsieren. Als ich etwas umständlich die Tür öffnete und Mike und mich hindurch schob, sah uns der Türsteher an. "Dacht ich's mir doch", knurrte er und drehte sich weg. "Sieh zu, dass ihr weg kommt." - "Vielen Dank für die Hilfe", murmelte ich, mit Mike an meiner Seite. Sein Gewicht drückte immer stärker gegen mich und so humpelten wir wie zwei aneinander gekettete Menschen davon. Vor dem Motel konnte ich nicht mehr und ließ ihn los. Ich war völlig aus der Puste. "Mike.." ich atmete angestrengt und stützte mich auf meinen Oberschenkeln ab, während er einfach nur da saß, gegen die Hauswand gelehnt. "Was wird das?" fragte ich schließlich als ich wieder genug Luft hatte. "Was" Ich blickte um mich. "Tust du hier?" Er saß da und hatte die Augen geschlossen. Na super. So fertig habe ich ihn noch nie gesehen. Ich stemmte die Hände in die Seiten und dachte nach. Mike hier zu lassen, wäre wohl eine dumme Idee. Ihn aber mitzunehmen, würde sich als besonders schwer erweisen. Schließlich konnte ich ihn nicht einfach auf Händen heim tragen. Ich zückte mein Handy und rief Cat an. Nach ein paar mal klingeln ging sie schließlich ran. "Cat?" fragte ich. "Ja hi! Was gibt's? Warst du bei Mike?" fragte sie. "Ich bin bei Mike. Er ist total fertig und schläft gerade an der Hauswand gelehnt. Ich bekomme ihn nicht hoch. Außerdem sollte er nicht hier bleiben!" Stille. Cat sprach etwas. Ich wartete und betrachtete Mike. Sein Kinn ruhte nun auf seinem Brustbein. Die Augen flackerten etwas, sein Mund stand offen. Eine Welle Mitleid überkam mich. "Ave?" meldete sich Cat wieder. "Ja?" - "Sams Kumpel hat ein Auto. Wenn Mike eh so fertig ist, könnten wir ihn einladen und mitnehmen!" Ich stimmte zu. In 20 Minuten würden die beiden da sein. Also beschloss ich mich, neben Mike zu setzen und die Zeit unauffällig zu überbrücken. Die Sonne stand mittlerweile schon tief und zog lange Schatten in die Umgebung. Ich weiß nicht wie lange wir wirklich da saßen und wie lange ich mit dem Gras am Hausrand gespielt hatte, aber endlich fuhr ein Auto auf den Parkplatz. Sam stieg auf. Ich erhob mich und winkte. Er sah mich und kam auf uns zu. Sein Blick sofort auf Mike geheftet. "Alter, Was tust du nur?" fragte er Richtung Mike. Dann sah er mich an. "Danke Ave! Ich dachte, du könntest mit ihm reden, aber offensichtlich ist die Lage schlimmer als gedacht. Er ist ja gar nicht ansprechbar!" Sam sah mich an und ich erkannte die Verzweiflung in seinen Augen. "Es ist eine schwere Phase. Mike wird da raus kommen", ermutigte ich ihn. Er nickte knapp. Sein Kumpel hatte mittlerweile den Motor abgestellt und kam zu uns. Er begrüßte mich und deutete dann auf Mike. "Den nehmen wir mit?" fragte er zu Sam gewandt. Er nickte. Gemeinsam hievten sie Mike ins Auto. Ich setzte mich neben ihn. Er sah sich verwirrt um, doch dann schloss er wieder die Augen. Vergeblich. Der Kerl war für heute geschlossen. Sam klärte noch mit dem Mann an dem Empfang ab, dass er für eine weitere Nacht zahlen und sie morgen das Zimmer im Motel leer räumen würden. Die Fahrt zurück in die Stadt verlief still. Sam bedankte sich nochmal bei mir, ehe sie mich vor meiner Wohnung absetzten. Traurig sah ich dem Auto nach, als sie wegfuhren. Was war nur mit Mike los? Ich erinnerte mich an unser letztes Gespräch. Er hatte es definitiv gefasst aufgenommen. Irgendwas ist da. Irgendwas, was nicht mal Sam weiß. Ich beschloss, Mandy am Montag nach dem Wochenende davon zu erzählen. Sie hatte meist eine Ahnung.
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My Babe
ChickLitAvery Brown lebt ein unscheinbares Leben. Mit 21 Jahren hat sie zwar einen guten Job, eine tolle Wohnung mit ihrer besten Freundin und genug Geld, um das Leben zu genießen, doch ein entscheidender Punkt fehlt ihr: die Liebe. Dass sich ihr beschaulic...