50. Kapitel

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Ethans Büro sah desorganisiert aus. Wo vorher beschriftete Ordner alphabetisch aufgereiht gestanden hatten, herrschte das pure Chaos aus Notizbüchern, Mappen und heimatlosen Dokumenten. 

Es brauchte einen Moment, nachdem er die Tür hinter mir geschlossen hatte, bis ich verstand, was hier vor sich ging. Ethan räumte sein Büro. 

Die Erkenntnis traf mich so unerwartet, dass mir der Atme stockte und ich mich so energisch nach ihm umdrehte, dass ich fast gegen ihn stieß. Er fing mich vorsichtig ab und ließ dann seine Hände sinken. Ich vermisste sofort seine Wärme an meinen Armen. "Es ist okay", murmelte er beruhigend und sah mich an. Ich schüttelte den Kopf. Nein, es war nicht okay. 

"Was geht hier vor sich?" fragte ich und machte eine ausschweifende Bewegung. "Es sieht aus a-als, als würdest du-" - "Mein Büro räumen?"

Seine Frage klang eher nach einer Bestätigung meiner Annahme. Dann nickte er. "Vermutlich weil ich genau das tu, Avery." 

Ich schluckte. "Aber warum?"

Er lächelte. Es sah nach einem erschöpften Lächeln aus. Müde, aber ein kleiner Triumph schimmerte hinter der leichten Röte seiner Augen. Er sah aus als hätte er gekämpft. Als hätte er sich weh getan. Als hätte er anderen weh getan. Aber gewonnen. Am Ende. Für sich. Ich blinzelte. 

"Ich werde ehrlich zu dir sein, Avery. Ich hätte das schon viel früher tun sollen, aber ich schätze wohl, ich war nicht ehrlich zu mir selbst."

Ich verstand. Es fühlte sich an als hätte er die Worte aus meinem Herzen gezogen. Sich selbst belügen und blind machen. Ich war darin auch gut, weshalb ich sofort kapierte, dass er auch seine Zeit gebraucht hatte. 

"Als ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ein Teil von mir, dass ich nicht mehr taub durch mein eigenes Leben gehen kann. Nicht mehr. Ich habe den Teil verabscheut und versucht, von mir zu schieben. Ich denke, manchmal ist es leichter, sich unwissend zu stellen und die Gefühle von sich zu schieben. Weil es leichter ist so weiter zu machen, wie bisher. Ich habe alles her genommen. Jede Ausrede, die ich finden konnte, um mir selbst einzureden, dass du nicht mehr wärst als eine Angestellte. Jemand, der eben auch hier arbeitete. Aber es wurde schwieriger. Fuck, ich..." Er fuhr sich über das Gesicht und seufzte. "Ich habe emotional dicht gemacht. Und es war so viel einfacher, Ave. Es war so viel einfacher im Leben so zu tun als würde ich rational allen Wünschen folgen können. Aber die Wahrheit ist, dass du mich raus gezogen hast aus dieser Kälte. Und es war wie ein Schock. Als hättest du mir die Augen geöffnet und als...als könnte ich das erste Mal wieder richtig sehen. Nicht nur das Schlechte, sondern auch das Gute und ich hab es versucht. Ehrlich versucht. Aber ich kann meine Gefühle zu dir nicht mehr Wegsperren. Ich kann nicht mehr leugnen, dass ich dich will. Nur dich. Ich will dich besser kennen lernen, ich will dich auf Dates einladen, dich lachen sehen und dich halten, wenn du weinst. Und nicht nur  in irgendwelchen Cafés oder Bars oder wenn wir uns über den Weg laufen. Ich will dich ganz und wenn das bedeutet, dass das hier-" Er zeigte um sich. "- ein Ende gefunden hat, dann ist das okay. Weil ich endlich den Mut habe, mir selbst gegenüber ehrlich zu sein. Ich kann darauf verzichten. Aber nicht auf dich, Ave. Nicht auf dich." Er schüttelte den Kopf. 

Als er aufblickte, fühlte es sich an als würde mein Herz stehen bleiben, nur um kurz darauf wie wild gegen meine Rippen zu klopfen. Seine Worte kamen langsam in meinem Bewusstsein an. Ethan hatte Gefühle für mich. Er war dabei, alles aufzugeben. Für mich.

Es fühlte sich seltsam richtig und gleichzeitig komplett verkehrt an. Ich war es nicht wert, seinen Job zu verlieren - mehr noch: die Firma, die er übernehmen sollte. Es würde die Beziehung zu seinem Vater zerstören. Oder?

"Ethan, ich, ich wollte." Shit, wie sollte ich das alles in Worte packen? Ich holte tief Luft. "Ich fühle mich genauso. Ich will dich, Ethan. Seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Du hast mich verwirrt. Dein Verhalten hat mich verletzt und wütend gemacht, aber vor allem irritiert. Trotzdem bist du der erste Mann, der mich interessiert und der mich einfach nicht los lässt. Den ich nicht los lassen kann und auch nicht los lassen will. Aber du kannst nicht die Firma und die Beziehung zu deinem Vater wegschmeißen. Das ist deine Zukunft. Und was ist überhaupt mit deiner Verlobten? Ethan, ich will nicht, dass du etwas bereust. Ich will dich, aber..." Ich suchte nach den richtigen Worten. "... aber ich habe Angst."

Es klang simpel, aber es wahr die einfache Wahrheit. Ich hatte Angst davor, mein Herz zu offenbaren, es zu verlieren und nicht mehr heil zu werden.

"Avery." Er kam näher und nahm meine Hände in seine. Strich vorsichtig über meine Knöchel und sah mich dann an. Sein Blick war sanft und offen. "Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich bereue nichts. Ich habe die Verlobung aufgelöst. Meinem Vater und Adelyn alles genau so erzählt. Wie sie damit umgehen, ist jetzt ihre Sache. Ich werde mir eine Wohnung suchen und mein Vater muss selbst entscheiden, ob er damit klar kommt, wenn ich meine eigenen Entscheidungen treffe. Wenn nicht, dann weiß ich ehrlich nicht, ob ich ihn wirklich in meinem Leben haben will." 

Es klang hart, aber ich verstand. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem man für sich entscheiden und sich von allem los machen musste, was einem dabei im Weg stand. Es musste nicht für immer sein, aber der Schritt verlangte genug Mut ab, um daran wachsen zu können.

Ethan machte einen Schritt auf mich zu. "Ave, du hast alle Zeit der Welt, darüber nachzudenken. Du hast meine Nummer. Ich verstehe, wenn du-"

Ich dachte nicht weiter nach. 

Ich hatte genug gewartet.

Ich wollte ankommen.

Also griff ich nach seinem Hemd, und zog ihn zu mir. Seine Lippen fanden meine. Sie waren weich und warm und seine Nähe umhüllte mich wie eine Decke. Ethan seufzte leise als hätte er zu lange auf diesen Moment gewartet. Seine Hände fanden meine Hüften und er griff vorsichtig, aber bestimmt zu. 

Unsere Lippen bewegten sich und drückten sich aneinander. Nach einer Weile streifte seine Zunge vorsichtig meine Unterlippe und ich öffnete meinen Mund weiter, ließ ihn ein. 

Ein Stöhnen durchdrang die Stille und es brauchte eine Sekunde bis ich bemerkte, das es von uns beiden kam. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und zog ihn noch näher, öffnete meine Lippen noch weiter und versank im Gefühl seiner Hände auf meiner Haut, seinem Mund auf meinem und seiner Zunge, die spielend meine umkreiste. 

Ich spürte wie er mich weiter gegen den Schreibtisch drückte, auf dem ich mittlerweile halb saß. Er zog meine Unterlippe zwischen seine Zähne, saugte und biss und küsste mich wieder und wieder. 

Ich schien zu verschmelzen. In ihm. In diesem Moment. 

So musste sich heim kommen anfühlen, dachte ich mir. 

Er küsste meinen Hals und ich musste ein Lachen unterdrückten. Ich spürte sein Grinsen an meinem Nacken. Er umarmte mich. 

"Miss Brown", murmelte er als könnte er selbst nicht glauben, wie er in diese Situation gekommen war. 

"Mister Parker", erwiderte ich amüsiert und drückte ihn noch fester.

Suchte Halt, wo vorher keiner gewesen war. 

My BabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt