43. Kapitel

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Am nächsten Abend saß ich in meinem Bett und lehnte mich gegen die Wand am Kopfteil. Meine Gedanken wanderten auch diese Nacht immer wieder zu Ethan. Das zehnte Mal entsperrte ich mein Handy und ließ die Messenger App aktualisieren nur um zu sehen, dass ich keine neuen Nachrichten hatte. Ich seufzte. Was Ethan wohl gerade tat? Als ein Bild in mir hochkam, wie er die Arme um seine Verlobte schlang, versuchte ich, den Gedanken zu verdrängen. 

Ich scrollte in meinen Kontakten nach Kit. Wir hatten lange nicht mehr geschrieben. Das letzte Mal war seinem Geburtstag gewesen, als ich ihm gratuliert hatte. Ich glaube, es wird immer Daten geben, die man niemals vergisst.

Ich überlegte, ihm zu schreiben und die Sorgen seines Vaters zu erwähnen, doch auch dagegen entschied ich mich. Kit sollte nicht denken, dass ich die Nähe zu ihm suchte. Ich schätzte ihn so sehr, doch seit Ethan weg war, wusste ich, dass es nur Freundschaft zwischen Kit und mir gab. Ethans Abwesenheit zeigte mir, wie sehr man einen Menschen vermissen konnte. Solche Gefühle hatte ich Kit gegenüber noch nie gehabt und werde sie vermutlich auch nie haben.

Ich entschied mich, Kit morgen anzurufen, um ihm zu sagen, dass ich nicht mehr als Freundschaft zwischen uns sah. Dank Parker wusste ich, wie notwendig Ehrlichkeit in solchen Situationen war. 

Nach einer Weile stand ich auf und lief nach unten, um mir noch ein Glas Wasser für die Nacht zu holen. Manchmal wurde ich während dem Schlafen von unbändigem Durst geweckt, sodass ich mir angewöhnt hatte, immer was zu trinken in Reichweite zu haben. Ich betrat die dunkle Küche und knipste das kleine Licht auf dem Tresen an. 

Von oben hörte ich Geräusche und Mamas klare Stimme. Sie klang sanft, ganz so, als ob sie einem Kind gerade etwas erklären wollte. Sie sprach bestimmt mit meinem Vater. In den letzten Tagen wehrte er sich immer öfter gegen alltägliche Routinen. 

Ich machte den Wasserhahn auf und füllte ein Glas, das ich aus der Vitrine genommen hatte. Die Müdigkeit holte mich schneller ein seitdem ich hier war und ich fragte mich, ob ich jemals wieder länger als 22 Uhr wach bleiben konnte. Was saugte meine Energie so auf?

Als ich das Glas nahm, um hochzugehen, sah ich, dass das Büro meines Vaters wieder einen Spalt weit geöffnet war. Diesmal zögerte ich nicht länger. Ich stellte das Glas ab und lief mit schnellen Schritten hinein. 

Mit einem Knips schaltete ich das Licht an. Diesmal wirkte der Raum weniger mysteriös als er das letzte Mal gewirkt hatte. Trotzdem fühlte es sich immer noch verboten an, ihn überhaupt zu betreten. 

Ich scannte die Bücherregale und hielt Ausschau nach dem Titel "My Babe". Das Buch war mir sofort ins Auge gesprungen und nun verspürte ich das Bedürfnis, darin zu lesen. Was auch immer es sein mag, es hatte meine Aufmerksamkeit. 

Nach einigen Sekunden fiel mein Blick auf die schwarze Tinte. Ich hastete zum Regal und zog es hinaus. Es hatte einen Stoffumschlag. Die Farbe der Schrift war darauf säuberlich zu lesen. Ich klemmte es mir unter den Arm, schaltete das Licht wieder aus und lehnte die Tür wieder an. 

Eilig schnappte ich mir mein Glas und lief die Treppen hinauf in mein Zimmer. Meine Mutter musste nicht unbedingt wissen, dass ich ein Buch von meinem Vater entwendet hatte. Am Schluss würde sie mir noch verbieten, darin zu lesen. 

Ich schloss die Zimmertür und machte es mir wieder auf dem Bett gemütlich. 

Vorsichtig strich ich über das Buch. Es war alt. Zumindest sah es so aus. Die Seiten schienen unendliche Male geknickt und geblättert worden zu sein. 

Dann öffnete ich das Buch. 

Für mein Babe,

Die einzige Liebe, die ich jemals spüren durfte. 

Ich fragte mich, ob das wirklich die Schrift meines Vaters war. Doch sie war unverkennbar. Säuberlich, mit geraden Linien. Die Tinte war schon etwas verblasst. Ich strich vorsichtig darüber. Staub hatte sich selbst hier abgesetzt. 

Dann blätterte ich nochmals um. 

Februar 1968

Mein Atem stockte. Es war nicht nur irgendein altes Buch, in das mein Vater Liebeserklärungen an meine Mutter geschrieben hatte, als er noch jung und liebenswert gewesen war, nein, es war ein Tagebuch. Ein sehr altes. Ich rechnete zurück. Mein Vater musste gerade mal 19 zu dieser Zeit gewesen sein. Mama meinte aber, die beiden hätten sich erst mit Mitte 20 kennen gelernt. 

Ich blätterte wieder zurück. 

Die einzige Liebe, die ich jemals spüren durfte. 

Diese Zeilen waren nicht an meine Mutter gerichtet. Das konnte gar nicht sein. Ich spürte, wie die Neugier mich packte, gepaart mit Angst, etwas zu lesen, das ich nicht wissen sollte. 

Februar 1968

Du hattest einen Zopf geflochten. Deine Haare haben golden im Sonnenlicht geglänzt und obwohl es kalt war, hast du mein Herz erwärmt. Ich werde nie vergessen, wie ich dich das erste Mal gesehen habe. Ich wusste, du bist es. Mein Mädchen, Mein Für Immer. Die kleine Ewigkeit meiner Selbst.

Ich schluckte schwer. 

Solche Zeilen hatte ich nicht erwartet. Wer war Sie?

Und wer war Er? Ich konnte mir nicht mal im Entferntesten vorstellen, dass mein Vater solch schöne Worte finden konnte. Der Mann, der so kalt gewesen war. Selbst im größten Monster schlägt ein Herz, hatte mir meine Mutter einmal gesagt und auf einmal machte es Sinn. Vielleicht war nicht immer der Mensch das wütende Tier, sondern das Herz, das in ihm schlug wie eine Bestie, die ausbrechen wollte. Raus aus dem Käfig der Rippen. Nur wohin? 

Ich blätterte um. Das Buch war dünn und hatte wenige Seiten, gleichzeitig schien es jeden Moment auseinander zu fallen, so abgenutzt war es. 

Juli 1968

Du hast mich gefragt, ob ich im Chor mitsingen würde. Ich war ganz verlegen. Was wollte ein Mädchen wie du von einem Jungen wie mir? Deine Stimme klang so wunderschön weich. Ich hätte dir stundenlang zuhören können. Natürlich habe ich zugesagt. Der Chor bedeutete mir nichts, aber es reichte mir zu wissen, dass ich zumindest am Sonntag für eine Stunde in einem Raum zusammen mit dir sein konnte. 

Ich blätterte. Die einzelnen Einträge waren kurz und doch hatte mein Vater jedem einzelnen eine eigene Seite gewährt. 

August 1968

Wir haben uns verabredet! Ich konnte es kaum glauben. Du hattest Schleifen in deine Zöpfe gebunden und mir einen Apfel aus deinem Korb angeboten. Die Luft war angenehm warm und ich werden wohl nie vergessen wie es sich anfühlte, wenn ein Traum Wirklichkeit wird. Du hast gefragt, ob ich mit dir die Lieder für kommenden Sonntag proben wolle. Natürlich wollte ich. 

September 1968

Lily. Sie nennen dich Lily. Und ich darf das jetzt auch. Lillian ist dein voller Name. Aber Lily gefällt dir besser. "Er ist kurz und frech", hast du gesagt. Ich fand ihn einfach nur wunderschön. Lily. Ich konnte deinen Namen nicht oft genug aussprechen, so schön klang er. 

Lily. Ich starrte auf die Worte. Lily

In Gedanken versuchte ich in der Vergangenheit zu kramen. Hatte er irgendwann auch nur einmal diesen Namen erwähnt? Ich konnte mich nicht erinnern. Weder er noch meine Mutter hatten jemals von einer Lily gesprochen. 

Ich atmete tief durch. Ich musste weiter lesen und heraus finden, wer sie war und was diese Liebe mit meinem Vater gemacht hatte. 

My BabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt