46. Kapitel

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Tränen verschleierten meine Sicht, während ich blind nach meinen Sachen griff. Ich musste weg. Weg. Weg. Raus hier. 

Mit zittrigen Händen räumte ich hektisch die Sachen in meinen Koffer. Ich gewährte mir keine Minute, um sie richtig zusammenzulegen oder anzuordnen. Ich griff nach den Dingen, die ich mitgebracht hatte und füllte den kleinen Platz bis der Reißverschluss nur schwer zuging. Dann richtete ich mich auf, fuhr mit der Rückseite meiner Hand über mein nasses Gesicht, das von Gefühlen erzählte, die ich selbst nicht richtig einordnen konnte. 

Es war zu viel. Meine Welt war in sich zusammen geklappt und ich fragte mich, was das aus mir machte. Wer war ich, wenn die Personen um mich herum doch nicht die waren, die sie vorgaben zu sein?

Ich drängte die Gedanken beiseite. Eines war mir bewusst: Ich würde nicht denselben Fehler machen. Ich würde keine Rücksicht nehmen auf Dinge, die es nicht wert warten. Sein Name geisterte mir wieder und wieder durch den Kopf: Ethan Parker. Dieser Idiot. Dieser wunderschöne, anstrengende, attraktive, absolut idiotischer Idiot.

War ich es irgendjemanden schuldig mich zurückzuhalten und auf bessere Zeiten zu warten?

Ich wusste nicht, zu was mich das machen würde. Vielleicht würde ich später zurückschauen und über mich selbst den Kopf schütteln. Doch jetzt war nicht später. 

Würde ich ins offene Messer laufen? Vielleicht. 

Würde es weh tun? Vermutlich.

War es das Wert? Hoffentlich.

Ich schnappte mir einen Haargummi, band mir einen Zopf und griff nach meinem Koffer. 

Ein Gemurmel kam von dem Zimmer meines Vaters. Meine Mutter sprach ihm zu. Ihre Stimme ruhig und kontrolliert, fast liebevoll. Geduldig. Ich schnaubte. Mit lauten Schritten lief ich zur Treppe, hievte mit beiden Armen meinen Koffer hoch und polterte damit die Stufen herunter. Die Treppe knarrte als wäre auch sie verärgert über die späte Unruhe. 

Oben wurde es ruhig. Während ich in meine Schuhe schlüpfte und meine Jacke überzog, öffnete sich eine Tür. "Avery?" Stille. "Ave?" Ich verharrte, schloss meine Augen und atmete langsam aus. Die Stimme meine Mutter klang besorgt, aber vorsichtig.

Es erinnerte mich daran, als ich mich am Haus versteckt hatte als ich klein genug war, unter den Vorsprung der Veranda zu passen. Ich hatte dort gekauert, nachdem ich ein Glas zerbrochen hatte. Doch als mich meine Mutter gerufen hatte, klang sie nicht wütend, sondern nur besorgt. Später hatte sie mir erzählt, dass sie ein Glas ersetzen könnte, mich aber niemals. Ich hatte es nicht wirklich verstanden. Für mich hatte nur gezählt, dass sie mich in die Arme geschlossen hatte und wir kein Wort über meinen kleinen Unfall vor meinem Vater verloren hatten.

Die Erinnerungen verblasste genauso schnell wie sie gekommen war. Wut mischte sich unter Melancholie und erinnerte mich an das Gefühl, dass ich nicht zu tief spüren wollte: Enttäuschung. 

"Was?" rief ich und auch meine Stimme passte in die Vergangenheit. Sie klang patzig und kindlich. Unreif. Ich richtete mich auf und griff nach meinem Koffer. "Ich muss los. Ich melde mich." 

"Ave."

"Nein, Mom. Ich muss.." Was überhaupt? Ich war mir selbst nicht klar, was ich vor hatte. Ein Plan existierte nicht. Nur ein Ziel. "Ich muss mir Gedanken machen."

Jetzt sah ich den langen Schatten meiner Mutter, der durch das Licht im oberen Stockwerk auf die Treppen fiel. Als wäre er ihr einen Schritt voraus, darin, mich festhalten zu wollen. Ich starrte auf ihn, biss mir auf die Unterlippe und zwang dann meinen Blick nach oben. 

Sie stand da. In ihrem mit Zitronen bedruckten Kleid. Ihre Arme hingen unsicher links und rechts von ihrem Körper. Ihr Blick war offen, besorgt und traurig. Als läge darin eine unausgesprochene Entschuldigung. Ich würde sie annehmen. Irgendwann. Aber nicht heute. Nicht jetzt. 

My BabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt