03 | EIN HALBER TAKT

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Kurz nach ein Uhr nachts hatte der Zug die letzte Zwischenhaltestelle verlassen. Die Ankunft am Aéroport Camaret wurde gegen sieben am nächsten Morgen erwartet. Ninive war daher früh zu Bett gegangen, doch nach zwei Stunden unruhigen Schlafes hatte das Anfahren des Zugs sie endgültig geweckt. Eine Zeitlang lag sie wach im Bett und starrte zur niedrigen Decke ihres Abteils, in der Hoffnung, die Müdigkeit wiederzufinden und einzuschlafen. Doch schließlich stand sie auf, ging zum Fenster und ließ sich in den Sessel sinken. Mit einer Geste in Richtung des Controlpads, das sich neben der Abteiltür in einer Wandhalterung befand, löschte sie das zum Schlafen gedimmte Ambientlight ganz. Es wurde stockdunkel um sie herum, doch nur den Bruchteil einer Sekunde später hatten sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt und sie sah den Sternenhimmel hinter ihrem Fenster.

Es war erst wenige Tage nach Neumond und so war es vor allem das Sternenlicht, das Schemen und Schatten in die schwarze Landschaft zeichnete, die draußen vor dem Fenster vorbeiflog. Ninive versuchte Konturen zu erkennen, doch das Licht war zu schwach und der Zug zu schnell. Sie fragte sich, wie so eine Nachtfahrt wohl vor hundert Jahren zur Zeit der letzten Jahrtausendwende  gewesen war. In der Zeit bevor das globale Netz zusammenbrach, bevor Naturkatastrophen das Land entvölkerten und den überlebenden Teil der Menschheit in die großen Städte zurückdrängten.

Entlang der Zugstrecke gab es auch jetzt noch hin und wieder kleine Ansiedlungen, die sich in den Schutz des Bahndammes gedrängt um Forschungseinrichtungen und Stützpunkte scharten, doch früher – das hatte Ninive in alten Filmen gesehen – lagen ganze Dörfer und Kleinstädte über das Land verbreitet mit Tausenden schimmernder Lichter in der Nacht, dort wo jetzt nur schwarze Wildnis war.

Sie ließ das Licht im Abteil wieder hochfahren, bis der Raum in ein dämmriges kaltes Weiß getaucht war. Sie ging hinüber zu ihrem Koffer – die Kleiderkommode hatte sie für eine Nacht nicht einräumen wollen – und zog sich an. Dabei fiel ihr Blick auf den engen, anthrazitfarbenen Overall, der die Basis des leichten Kampfanzugs, der Standardarbeitskleidung für alle nichtmilitärischen Personen an Bord des Schiffes, war. Die dazugehörigen Kevlar verstärkten Schutzteile hatte Ninive in einem zweiten Koffer mit biometrischem Sicherheitsschloss, in dem sich auch ihre Notfallwaffe befand, eine Lettic Schockpistole. Zur Vorbereitung auf die Mission gehörte auch ein Waffentraining. Ninive hatte sogar eine Berechtigung für schwere Sturmwaffen, diese wurden aber im Regelfall nur den Soldaten ausgehändigt.

Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Abteiltür und Ninive trat hinaus auf den Gang. Es war hier einige Grad wärmer als in ihrem Abteil, dessen Klimatisierung bereits auf Schlaftemperatur eingestellt war. Dennoch fröstelte sie, eine Auswirkung ihres Kreislaufs, den sie zur Nachtzeit immer drosselte. Sie zog die Strickjacke, die sie lose über ein schlichtes, nicht besonders warmes Top gezogen hatte, enger um sich und blickte dann unschlüssig den Gang zu beiden Seiten hinunter. In Fahrtrichtung sah sie am Ende des Wagons zwei Männer, die sich am Fenster stehend angeregt aber leise unterhielten.

Ninive war nicht nach Gesellschaft zumute, und so wandte sie sich zur anderen Seite und ging den Gang ein Stück hinab. Zwei Abteile weiter hielt sie plötzlich inne. Sie hörte Musik aus dem Inneren des Abteils. Musik gehörte zu den Disziplinen, die Ninive beherrschte. Jeder Klon, der in die Ausbildung zu einem der großen Institute ging, hatte die Möglichkeit, Musik als Logik und Kombinatorik bildendes Fach zu wählen. Allerdings kam das nur sehr selten vor, denn um in dieser Disziplin einen Exzellenzgrad zu erreichen, fehlte es den Klonen in ihrer biologischen Anlage an musischer Begabung. Ninive hatte ihren Exzellenzgrad erreicht – mehr noch, ihre Fähigkeiten und ihr Verständnis der Musik gingen weit über den analytischen Aspekt hinaus. Wie weit, das wusste außer Ninive selbst niemand, denn nachdem sie herausgefunden hatte, wie sie selbst Einfluss auf die Neurohemmer in ihrem Hirn nehmen konnte, hatte sie diese bei Bedarf herunter reguliert und damit etwas getan, das ihr als Klon streng verboten war.

Mit dem Rücken gegen die kühle, holzvertäfelte Abteilwand gelehnt, sah Ninive durch das Fenster hindurch ins dunkle Nichts. Sie konzentrierte sich ganz auf die Musik. Die tiefen Töne eines Ambient-Pianos spürte sie leicht in ihrem Inneren vibrieren, die fragile Melodie einer Violinenstimme drang hingegen nur leise zu ihr durch. Ninive spürte die Schläfrigkeit, die sie noch kurz zuvor so vermisst hatte, langsam wieder in ihr aufsteigen. Sie widerstand der Vernunft, die ihr riet, in ihr Abteil zurückzugehen und sich ins Bett zu legen. Sie drehte den Kopf zur Seite und lehnte ihre Schläfe an die Wand, spürte das langsamer werdende, schwache Pochen ihres Pulses.  Ninive schloss die Augen und atmete langsamer.

Gerade als sie fast im Stehen eingeschlafen wäre, setzte die Melodie für einen halben Takt aus und dann erneut ein. Die Erkenntnis, dass die Musik nicht vom Band kam, sondern von jemandem gespielt wurde, bewegte Ninive dazu, ihre Augen für einen Moment zu öffnen. Und in diesem Moment sah sie die Feuer draußen vor den Fenstern. Es waren mehrere helle, flackernde Lichtpunkte unweit der Bahntrasse, die sich ihrerseits zu bewegen schienen. Ninive stieß sich mit etwas Mühe von der Abteilwand ab und ging näher an das Fenster, um besser sehen zu können. Sie spähte hinaus in die Nacht. Die flackernden Lichter kamen offenbar von Fackeln, die die umliegende Landschaft gespenstisch beleuchteten. Vorbeifliegende Baumkronen wurden in das tanzende Licht getaucht und verschwanden wieder im Dunkeln, kurz darauf öffneten sich wildwachsende weite Wiesen dem Lichtschein. Doch die Quelle des Lichts war nicht zu erkennen.

Und dann wurde der Zug erschüttert. Es war wie das Grollen eines Erdbebens. Ninive reagierte blitzschnell und fing sich ab, bevor sie das Gleichgewicht verlor. Sie sah den Gang entlang. Die beiden Männer am anderen Ende des Waggons waren durch die Erschütterung hingefallen und standen gerade wieder vom Boden auf, sonst war niemand in Sichtweite. Mehr aus Neugier als aus ernsthafter Sorge um die beiden Mitreisenden ging Ninive zu ihnen hinüber.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich bei ihnen. Einer der beiden Männer nickte.

„Was kann das gewesen sein?“, fragte der andere.

Ninive antwortete nicht und wandte sich zurück zum Fenster. Die Lichter draußen waren verschwunden, und der Zug schien mit unverminderter Geschwindigkeit weiter zu fahren. Sie wartete noch einige Minuten auf dem Gang, doch als auch niemand vom Zugpersonal auftauchte, der die Passagiere über irgendwelche Zwischenfälle informierte, beschloss sie zurück in ihr Abteil zu gehen und es ein weiteres Mal mit dem Schlafen zu versuchen.

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