19 | VAPORISIERTER OZEAN

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Der Traum war anders in dieser Nacht. Sie hatte sein Versprechen gehört, sie war gerannt, erst um ihn zu erreichen, dann um ihr Leben. Die Flut rollte über das Land und riss alles mit sich, Autos, Häuser, Bäume, Städte, Menschen. Und schließlich, als ihre Lungen brannten, da gab sie wieder auf. Die Wogen schlugen über ihr zusammen, und ein Sog ergriff sie und zog sie hinaus aufs weite Meer. Ihre Lungen füllten sich mit Wasser und drangen in ihren Körper ein, in ihren Kopf, in ihr Bewusstsein. Und dennoch, es war nicht die endlose Schwärze, auf die sie zutrieb, dieses Mal war es ein Licht, das immer heller wurde. Ein gleißender Strahl stieß vom fernen Himmel hinab und vaporisierte die Fluten. Sie trieb langsam aufwärts zur Oberfläche eines luftgefüllten Ozeans. Schwerelos und körperlos, die verlorene Ladung eines Luftschiffs auf ihrem Weg zum Strandgut.

Die Luft flimmerte dort, wo die Sonnenstrahlen den warmen Strand berührten. Weißer Sand glitzerte gleißend in der Sonne. Und vor dem hellen Strand, der wie ein Band aus purem Licht das Land von der See trennte, zeichnete sich der Körper ab. Sie trieb unweigerlich auf ihn zu, langsam erst, dann schneller werdend. Dort stand er und streckte seine Arme nach ihr aus. Sie konnte nur seine dunklen Umrisse erkennen, verschwommen, denn das blendende Licht trieb ihr Tränen in die Augen. Sie blinzelte und versuchte sich auf ihn zu konzentrieren. Die Umgebung um sie herum verschwamm und verzerrte sich, und eine schroffe Linie sägte sich wie eine Felsformation in das Bild ohne Kanten. Sie trieb in den Schatten dieser sich bildenden Landzunge und wartete, bis sich ihre Augen beruhigt hatten.

Doch als sie wieder klar sehen konnte, war er verschwunden. Ihr Herz setzte aus und sie warf einen Blick zurück auf den lichtdurchtränkten Ozean. Und während sie immer weiter auf die Klippen zutrieb, tauchte eine Gestalt aus der verschwommenen Luft auf, eine zierliche Figur mit dunklen Haaren und einem Körper wie aus Lehm geformt. Die Gestalt drehte sich zu ihr und blickte sie aus tönernen Augen an. Es war ein langer Moment, in dem die Wellen langsamer rollten und der Wind seinen Atem aussetzte.

Eine kurze Bewegung der Gestalt, die Drehung des Kopfes, das Abwenden des Blickes von ihr, und Wellen und Wind nahmen wieder Fahrt auf. Der Ozean fühlte sich nass und kalt an, und sie spürte den Sog tief unter ihr. Sie drehte sich um, sah auf die Landzunge und stellte fest, dass Blut aus ihrem Gestein sickerte und sich in die Fluten ergoss, bevor es sich in der Weite des Ozeans verlor. Sie sah an sich hinab. Sie war nicht mehr körperlos. Ihre Haut war kalt und weiß, als wäre sie aus Marmor geformt. Und die Schwere des Marmors schien es auch zu sein, die sie schließlich nach unten zog. Tief hinab in seine ausgestreckten Arme.

Das erste, was Ninive tat, als sie erwachte, war ruckartig die Bettdecke zurückzuschlagen. Mit ihrem ersten wachen Gedanken konnte sie den genauen Grund dafür nicht nennen, aber es mischten sich mehrere Ursachen in ihrem Kopf. Sie wollte sich vergewissern, dass sie nicht an das Bett gefesselt war. Das wurde dank Lilian zu einer neuen Macke von ihr. Gleichzeitig hatte sie aber instinktiv überprüft, ob sie nackt war. Sie wusste nicht, ob es der Traum von der marmornen Hilflosigkeit war, der diesen Gedanken ausgelöst hatte, oder ob es Lilians unbedachter Bemerkung über ihren Körper geschuldet war, als sie am Vorabend das Meer – das echte Meer, mit Wellen aus Wasser – verlassen hatten.

Doch egal woher diese Reaktion kam, sie fühlte sich bereits Sekunden nach dem Erwachen lebendig und leicht. Auf eine Art, die sie bislang in ihrem Leben nur in seltenen Momenten erlebt hatte, und jeder dieser Momente war von Musik erfüllt und widersprach damit ihrer Natur als Klon.

Ninive griff nach ihren Stiefeln, die neben dem Bett standen, zog sie jedoch nicht an, sondern ging barfuß aus dem Zimmer und die Holztreppe hinunter. Auf einem klapprigen Stuhl nahe der Haustür hing der Kapuzenpullover, den ihr Lilian von Seamus organisiert hatte. Den Jumpsuit hatte sie über Nacht nicht ausgezogen, denn – wie Lilian gesagt hatte – die Nächte in Camaret wurden kälter. Auf einem der Sessel im provisorischen Wohnzimmer lagen die Schutzplatten, mit denen sie den Jumpsuit zum Kampfanzug aufrüsten konnte. Sich den Hoodie über den Kopf ziehend verzichtete Ninive auf die Platten vorerst. Das Frühstück würde sie auch ohne überstehen.

Als Ninive sich einen Getreidebrei in einer gesprungenen Steingutschüssel anrührte, erschien Martin draußen vor dem offenen Küchenfenster.

„Guten Morgen, Sonnenschein!“, grüßte er gutgelaunt, und Ninive verwunderte sich selbst, als sie mit einem unbeschwerten Lächeln antwortete.

„Auch schon auf den Beinen?“, fragte Ninive überflüssigerweise.

„Seamus und ich werden die Nachbarschaft unsicher machen und mitgehen lassen, was uns nützlich erscheint. Genau das richtige, um wach zu werden“, antwortete Martin und fügte nach einer Pause hinzu. „Du siehst heute Morgen besonders hübsch aus, das kann nur an unserer guten Meeresluft liegen.“

„Ich fühle mich gut“, entgegnete Ninive und überlegte, ob Verlegenheit an dieser Stelle angebracht wäre, „ich habe wohl einfach gut geschlafen.“

„Entweder das, oder es ist Seamus modischer Kapuzenpullover“, Martin lachte und warf dann einen Blick durch den Garten, als ein kurzer Pfiff erklang. „Entschuldige mich, wenn man vom Teufel spricht ... Seamus wartet auf mich.“

Ninive lehnte sich aus dem Fenster und sah ihm nach, wie er durch das hohe Gras den Garten verließ. Seamus wartete bereits an der Straße auf ihn. Einen Moment später waren die beiden hinter der Hecke verschwunden. Sie rührte durch den Getreidebrei und ging zur Bank vor dem Haus. Eine kühle Brise wehte durch Camaret. Ninive versuchte, das Salz aus der Luft zu schmecken. Es war eine willkommene Abwechslung zum praktisch nicht vorhandenen Geschmack des Getreidebreis. Die Morgensonne wärmte ihre nackten Füße und sie ertappte sich für einen Augenblick bei dem Gedanken, ob sie nicht doch noch etwas länger hier in Camaret bleiben könnten. Doch andererseits war sie sich ziemlich sicher, dass ihre gute Laune und Leichtigkeit daher rührte, dass sie endlich wusste, wie es weiter gehen sollte. Endlich wieder einen Weg vor Augen, wenn auch noch kein klares Ziel.

Im Stockwerk über ihr hörte sie ein Fenster aufschwingen und kurz darauf Schritte auf den Stufen der Treppe. Dann klapperte jemand mit dem Sammelsurium aus halbwegs benutzbarem Geschirr in der Küche, bevor neben ihr in der Haustür eine Person erschien. Ninive sah auf und zur Seite. Isaak, in eine etwas zu weite Cargohose, einen löchrigen, beigen Strickpullover und schwere, offene Armeestiefel gekleidet, warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er seinerseits sein Essen löffelte. Ninive erwartete eine Unterhaltung, doch Isaak sagte kein Wort, also sagte auch sie nichts und hing stumm ihren Gedanken nach.

Der Seitenblick auf Isaak hatte etwas in ihrer Erinnerung angeregt, doch es war so tief vergraben, dass sie nicht sagen konnte, was es war. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Es musste etwas mit dem Sangre-Institut zu tun haben. Isaak war Somatoniker, doch niemand – nicht einmal Lilian – schien näheres über ihn zu wissen. Ilyena sagte, Klone reagierten eigenartig auf ihn, und Ninive fragte sich, ob das auch bei ihr der Fall war und sie es nur nicht gemerkt hatte. Andererseits hatte sie bislang nicht ein Wort mit ihm gewechselt, und obwohl Lilian ihr am Vortag dazu geraten hatte, hielt sie Ilyenas Bemerkung nun davon ab. Dann war sie der Klon, der nicht magisch von Isaak angezogen wurde. Er hatte sie holen lassen, er wollte sie hier in Camaret haben, also sollte er auch mit Informationen rausrücken, wenn er es für richtig hielt.

„Ich wecke Lilian und Ilyena“, sagte er schließlich, ohne sich direkt an Ninive zu richten, „wir haben nicht mehr viel Zeit, wenn wir Zervett und seine Leute nicht verpassen wollen.“

Dann war er wieder im Haus verschwunden und zu Ninives Entsetzen verspürte sie so etwas wie Reue, dass sie nicht das Gespräch begonnen hatte. Sie schüttelte sich innerlich und ein Teil ihrer morgendlichen Unbeschwertheit verflog. Sie stellte zähneknirschend fest, dass sie sich in letzter Zeit selbst sehr kompliziert fand. Diese Grübeleien kannte sie vorher fast nur von Rasmus. Das Absetzen der Neurohemmer hatte Nebenwirkungen, und sie hoffte, dass sie diese im Griff behalten würde.

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