20 | SQUARE NICOLAY

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Der Square des Batignolles war fast verlassen, als Sequana um halb neun von der Transitstation kommend den Weg zum Institut einschlug. Am anderen Ende des kleinen Parks sah sie zwei Jogger, ein Stück weiter eine alte Frau auf einer Bank, die sich unter ihr blaues Regencape duckte. Sequana zog den Parka enger um sich. Sie fröstelte. Es war auch der Schlafmangel, doch Paris war über Nacht merklich abgekühlt. Ein kalter Regen hatte eingesetzt und hing nun als grauer Schleier vor der Sonne. Eine aufkommende Windböe zerrte an ihrer Kapuze und blies ihr feinen Regen ins Gesicht. Sie rückte ihren Rucksack zurecht und schob sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, bevor sie weiterging.

Sie sehnte sich danach, schlafen zu können. Die wenigen Stunden der vergangenen Nacht, die ihr zum Schlafen geblieben waren, hatte sie in einem unruhigen Dämmerzustand gelegen. An erholsamen Tiefschlaf war nicht zu denken. Die Nacht davor hatte sie mit der Entführung von Rasmus verbracht. Eigentlich war sie seit 48 Stunden durchgehend auf den Beinen.

Es war nicht mehr weit vom anderen Ende des Parks bis zum Institut. Zwei Straßen weiter in der Rue Legendre hielt sie vor einem großen schmiedeeisernen Tor an, das eine Durchfahrt zu einem großen Innenhof versperrte, dem Square Nicolay. Sequana griff in die Tasche ihrer Jeans und beförderte eine kleine ID-Card ans Tageslicht, die sie vor eine Scanvorrichtung seitlich des Tores hielt. Es dauerte einen Moment, dann sprang das Torschloss mit einem leisen Klicken auf und sie drückte die Klinke herunter.

Der hinter dem Tor liegende Durchgang lag im Halbdunkel. Das durch Wolken und Regen gefilterte Sonnenlicht drang kaum bis hierhin vor. Sequana verlangsamte ihren Schritt und hielt inne, bevor sie in das Licht und den Regen des Square Nicolay trat. Sie stutzte. Am Ende des Hofes ragte das alte, große Gebäude auf, in dem sich das Institut befand. Und davor standen zwei große, schwarze Vans mit der Aufschrift AZ-Sec. Solange sich Sequana erinnern konnte, hatte niemals ein Sicherheitsteam den Square Nicolay und schon gar nicht das Institut betreten. Dass dies ausgerechnet an diesem Morgen der Fall war, konnte kein Zufall sein.

Sie griff erneut in ihre Tasche und zog ihr Comdevice hervor. Sie bemerkte, dass ihre Finger zitterten, als sie über den Touchscreen flogen und die ComID von Professor Doignac aufriefen. Sie hoffte, dass es nur an dem kühlen Regen und ihrer Müdigkeit lag, doch das Gefühl, dass etwas nicht stimmte nahm mit jedem Herzschlag zu. Der Professor nahm ihre Kontaktanfrage nicht entgegen. Sequana warf einen weiteren Blick hinüber zum Institut, aus dem nun zwei in schwarze Kampfanzüge gekleidete Männer kamen.

In der Hoffnung, dass sie niemand gesehen hatte, drehte sie sich um und verließ den Hof wieder durch das Tor. Sie folgte der Rue Legendre ein Stück, vorbei an Straßencafés und kleineren Läden, die von außen bei diesem Wetter jedoch allesamt wenig einladend aussahen. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte schlecht zum Institut gehen und darauf hoffen, dass die Security-Teams zufällig aus einem anderen Grund dort waren. Die Chance, dass ihr Gespräch der letzten Nacht mit dem Professor mitgehört worden war, war nicht gering. Dass Doignac ihren Anruf nicht entgegennahm, konnte natürlich damit zusammenhängen, dass er die Verbindung nicht für sicher hielt. Wenn es einen Ort gab, an dem sie ihn antreffen konnte, dann war es sein Appartement. Die Gefahr, dass die Security-Teams auch dort schon vor ihr waren, war nicht klein, aber eine andere Möglichkeit fiel Sequana nicht ein.

Die Sicherheitsteams waren in Paris so etwas wie eine konzernfinanzierte Polizei. Sie tauchten immer dann auf, wenn es um Vorgänge ging, die die Interessen der Regierung und ökonomischen Elite der Stadt gefährdeten. Und ihnen wurde von irgendeiner hohen Stelle in fast jedem Einsatzfall Zugriff auf alle öffentlichen Protokolle gewährt. Sequana war sich sicher, dass sie bereits auf die Überwachungsanlagen des Transitsystems zugriffen. Damit kamen die Metrobahnen für sie nicht mehr in Frage. Sie bog in die Avenue de Clichy ein und stellte sich einige Schritte weiter unter die Markise eines kleinen Imbiss', bevor sie ihr Comdevice aus der Tasche zog und dem kleinen Gerät ihr Ziel diktierte: „Magritte Parc, Place Saint-Pierre, Montmartre.“

„Immer die Straße runter, am Place de Clichy die Metro nehmen.“

Sequana zuckte zusammen und drehte sich um. Hinter der Theke des Imbiss' war ein junger Mann aufgetaucht. Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte zu ignorieren, dass ihr für einen Augenblick der Schreck in die Glieder gefahren war. Und dass nur, weil sie ein hilfsbereiter Mann angesprochen hatte. Sie musste dringend etwas gegen den Schlafmangel tun.

„Danke, aber ich...“, sie brach ab. Ich gehe lieber, hätte sie fast gesagt, doch angesichts des feinen, durchdringenden Regens würde das die Unterhaltung wohl nur unnötig verlängern. „... ich finde das schon. Einfach die Straße runter, richtig?“ Sie deutete absichtlich in die falsche Richtung. Der junge Mann schüttelte den Kopf und korrigierte sie mit einem generösen Grinsen. „Andere Richtung...“

„Ah ... danke!“ Sequana wandte sich in die richtige Richtung und warf ihm ein betont naives Lächeln zu, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte.

Erleichtert stellte sie fest, dass immerhin das funktionierte. Der junge Mann sah ihr von seinem Imbiss aus nach und vergaß dabei völlig, ihr einen Snack oder etwas zu trinken andrehen zu wollen. Es war eine seit der Geburt trainierte Eigenschaft der Klone, die volle Kontrolle über sich und die Situation behalten zu wollen, und in Sequanas Fall war es eine Obsession. Die zittrigen Finger, das Frösteln, die Müdigkeit – das alles war für sie ungewohnt und schwer ertragbar. Und gleichzeitig spürte sie eine ihr bislang unbekannte Faszination, während sie über das regenglänzende Kopfsteinpflaster durch die engen Gassen des Montmartre ging. Fühlte es sich so an, wenn man ohne Neurohemmer leben konnte?

Die Wohnanlage Magritte Parc war auf den Überresten alter Gebäude zwischen dem Boulevard de Rochechouart und dem Square Louise Michel, von dem aus die Stufen hoch zur Basilica de Sacré-Cœur führten, erbaut worden. Im unteren Bereich der Anlage waren die Überreste der bei einem Großbrand vor etwa fünfzig Jahren zerstörten Häuser erhalten. Schmale Säulen ragten zwischen diesen empor und hoben die einzelnen Wohnmodule von Magritte Parc einige Meter in die Höhe. Es war als schwebten die neuen Wohnungen über einer archäologischen Ausgrabungsstätte.

Sequana war mittlerweile bis auf die Haut durchnässt. Trotz ihres leichten Gepäcks hatte sie keine halbe Stunde für den Weg vom Institut hierher gebraucht, doch als sie von der Straße abbog und den Blick hoch zu Sacré-Cœur hinter sich ließ, hielt sie kurz inne und atmete tief durch. Sie spürte das Blut durch ihre Adern strömen, das taube Kribbeln der Müdigkeit in ihren Gliedern mit jedem Atemzug nachlassen. Neben einem alten Mauerstück, das hinter Glass gesetzt und mit einem Informationsschild zur Geschichte des alten Wohngebiets versehen worden war, ließ sie sich für einen Moment auf einer Bank nieder. Es war trocken unter den Wohneinheiten auf ihren Säulen, doch sie spürte das Wasser aus ihrer durchnässten Kapuze durch die Haarsträhnen in ihren Nacken rinnen und den durchnässten Stoff ihrer Kleidung kalt an ihrer Haut kleben.

Doch für eine lange Pause blieb ihr keine Zeit. Sie musste versuchen, den Professor zu finden. Unwillig drückte Sequana sich von der Bank hoch und folgte einem kleinen Pfad durch den Säulenwald bis zu einem großen Lichthof. Die Wohnmodule waren so angeordnet, dass sie einen Platz von etwa dreißig Metern Durchmesser freigaben, der hoch oben auf Höhe der obersten Stockwerke von einer runden Glaskuppel überspannt wurde. Ein am Rand des Platzes in den Boden eingelassenes Metallband deutete den ehemaligen Straßenverlauf der Rue d'Orsel an, doch Sequana hatte genug von Straßennamen und Geschichte. Sie durchquerte den Lichthof und hielt auf eine Gruppe von Fahrstühlen zu, die in die Wohnebenen über ihr führten.

Ein kleines Terminal seitlich der Fahrstühle diente als Adressregister der Anlage. Sequana  aktivierte es mit einer schnellen Geste und suchte dann im Register der Appartementnummern nach Professor Doignac. Das Terminal und die Fahrstühle waren videoüberwacht, doch das galt vermutlich auch für die Treppen und die öffentlichen Module der Anlage. Es gab für sie praktisch keine Möglichkeit, an den Kameras vorbeizukommen. Jedoch gehörte Magritte Parc zu den Orten in Paris, an denen viele einflussreiche Menschen wohnten, die den Sicherheitsteams zur Wahrung ihrer Interessen zwar fast jede erdenkliche Freigabe erteilten, selbst jedoch ungern überwacht werden wollten. Bis ein Security-Team die Videologs von Magritte Parc einsehen durfte, vergingen vermutlich einige Tage. Das sollte Sequana genug Vorsprung geben. Dennoch zog sie die Kapuze noch etwas tiefer ins Gesicht, als sie schließlich einen der Fahrstühle betrat und die Appartementnummer Doignacs eingab.

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