10 | NINA

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Sequana erwachte vom Rauschen des Wassers. Es war ohrenbetäubend. Fluten, die über ihrem Kopf zusammenschlugen, Strömungen, die sie mitrissen, ein Sog, der sie hinab zog in die schwarze Tiefe. Sie hatte ihn gerufen, hatte ihn erreichen wollen, bevor die Flut sie einschloss. Sie war gerannt, bis ihre Lunge brannte, bis ihr Herz schneller schlug, als es jemals zuvor geschlagen hatte.

Erst als sie den Nebel der Schläfrigkeit durchbrochen hatte, ebbte das ohrenbetäubende Rauschen ab auf den leisen Klang der Dusche im benachbarten Badezimmer. Sie drehte sich auf den Rücken und strampelte die Bettdecke von sich. Kalter Schweiß bedeckte ihren ganzen Körper und das schnelle Pochen ihres Pulses beruhigte sich nur langsam. Sequana fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und starrte zur Decke. Sie hatte diesen Traum seit einigen Wochen nicht mehr so intensiv erlebt, dass es sie ausgerechnet jetzt traf, kam höchst ungelegen.

Der Wind kam durch die offene Balkontür und bauschte die weißen Vorhänge auf. Dankbar sog sie den kühlenden Lufthauch ein und setzte sich auf. Durch die offene Tür des Schlafzimmers sah sie über einen kleinen Wohnungsflur hinüber zum Badezimmer, aus dem ein Lichtschein fiel. Rasmus war bereits unter der Dusche. Sequana fluchte innerlich. So war das nicht geplant.

Sie waren zu seiner Wohnung in den Appartements de Ciél gefahren und hatten sich eine angemessene Zeitlang unterhalten, bevor sie wieder Sex hatten. Sequana hatte ihn danach so lange im Bett halten können, bis sie schließlich beide eingeschlafen waren. Bis dahin war ihr Plan aufgegangen. Doch nun war er früher als sie erwacht, und sie musste improvisieren. Sie stand auf und machte ein paar schnelle Schritte hinüber zum Bad. Vorsichtig stieß sie die Tür weiter auf. Sie hörte Rasmus hinter dem blickdicht rauchgefüllten Glas der Duschabtrennung. Mit einem schnellen Blick sah sich Sequana um. Die einzigen Badetücher, die sie sehen konnte, lagen über einem Hocker nahe der Dusche. Sie griff danach und ging zurück ins Schlafzimmer, wo sie die Tücher über einen Stuhl warf. Es war kein besonders ausgefeilter Plan, aber es würde Rasmus hoffentlich lange genug aufhalten.

Ohne Zeit darauf zu verschwenden sich anzuziehen, setzte sie sich an den Schreibtisch in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers, auf dem Rasmus‘ Computer stand. Sie schaltete ihn ein und wartete, bis das Betriebssystem hochgefahren war. Dann begann sie damit, Daten zu suchen.

Es war der letzte Winter, bevor das globale Netz zusammenbrach. Später konnte man lesen, es hätte diese eigenartige Stimmung gegeben, als hätten die Menschen gespürt, dass es das letzte Mal gewesen sei, dass sie im behüteten Schoße einer Welt Weihnachten feierten, die noch nicht die Apokalypse gesehen hatte. Später, in den Städten die übrig geblieben waren, glaubte man diese Verklärung der Wahrheit. Der Mensch will sein Opium, die Medien sind sein Dealer.

Nina öffnete die schwere Seitentür der Kirche am Abend vor den Festtagen und schlüpfte ins Innere. Die Kälte umfing sie. Draußen waren es fast zwanzig Grad – über Null wohlgemerkt! – eindeutig zu warm für diese Jahreszeit. Nina war nicht religiös, gehörte keiner Kirche an und war Traditionen nicht verbunden, aber sie hatte die Fähigkeit zu glauben. Damals. Und sie war nicht alleine damit. Er war auch dort.

Die Kirche war kein ansehnlicher Bau. Eigentlich war es gar kein eigenständiger Bau, eher eine etwas vorgezogene Fassade in der Ladenzeile, die die unterste Ebene der mehr als 20 Stockwerke aufragenden Wohnblocks durchzog und mit ihren gut gemeinten Passagen, flackernden Neonlichtern und ungepflegten Schaufenstern die Dunkelheit und Kälte der Cosima-Wohnanlage durchbrechen sollte. Manche erzählten sich, die Kirche habe schon vor Errichtung der Blocks dort gestanden und sei erst später vom dreckigen Beton geschluckt worden. Dagegen sprach aber, dass die Kirche im Inneren ebenso kalt, schmucklos und betonverkleidet war, wie das durchschnittliche Appartement.

Für die Kinder der Wohnanlage war die Welt eine spärlich begrünte Fläche hinter den Rodecki-Blocks – so waren die beiden neuesten und etwas heller gefärbten Häuser der Anlage benannt, die mit ihrer Errichtung den gedachten Kreis, den die Gebäude bildeten, schlossen. Hier war ein weitläufiger Spielplatz, von dem man zur besseren Aufsicht der Kinder alle größeren Sträucher und Bäume entfernt hatte, und auf dem sich die wenigen, morschen Spielgeräte und Klettergerüste krampfhaft bemühten, den verfügbaren Platz einigermaßen auszufüllen. Auf zwei Seiten war diese Welt begrenzt durch eine hohe Lärmschutzmauer, hinter der die große Umgehungsstraße lag, auf einer durch die Rodecki-Blocks und auf der letzten durch eine windschiefe Hecke, die sich verbissen an das Gerippe eines rostigen Zauns krallte, der die Umfriedung eines alten Friedhofs war.

Nach Einbruch der Dämmerung fand Nina ihn oft dort. Während die anderen Teenager vor der Tankstelle saßen und sich betranken, die Spielautomaten in einer der kleinen Kneipen füllten oder zur Karaoke-Night im Cosmos Club waren, hing er hier seinen eigenen Gedanken nach. Eigentlich erfüllte er jedes Klischee des einsamen, tiefgründigen Jungen, und dennoch war Nina verliebt – denn sie war ein Mädchen, sie konnte glauben, und sie konnte lieben. Damals.

Der Comscreen flackerte auf, noch bevor die Druckluftverriegelung der Appartementtür die Schließsequenz beendet hatte. Sequana stieg aus ihren Schuhen und beförderte diese mit einem Tritt in Richtung Garderobenspind. Sie rief den Einwahlbildschirm auf und steuerte mit einer flüchtigen Geste durch die Liste, bis sie zu einem Eintrag gelangte, der anstatt eines Namens nur eine Kette aus Buchstaben und Zahlen enthielt. Erst als sich bereits die Verbindung aufbaute, setzte sie sich und schaltete die Ambient-Beleuchtung ein, die den Raum in ein dämmriges, blauweißes Licht tauchte. Kurz darauf erschien das Zeichen einer bestehenden Rufverbindung auf dem Screen, darunter der Hinweis: „Videoübertragung durch Gesprächspartner unterbunden.“

Sequana war es gewohnt, keinen visuellen Kontakt zu ihren Auftraggebern zu haben. Gleichzeitig wurde aber eine aktive Videoverbindung ihrerseits eingefordert. Der Grund dafür war nicht der tatsächliche Sichtkontakt, denn die Ambient-Beleuchtung blendete die Kamera und ließ nur einen dunklen, unscharfen Umriss von Sequana übertragen, sondern dass mit dem Videosignale eindeutige Identifikationssignaturen übertragen wurden, die ihrem Auftraggeber zusicherten, dass sich jemand vom vorher verifizierten Screen meldete.

„Ich habe ihn gecheckt, ich glaube, den können wir vergessen“, begann Sequana ohne Einleitung. Sie wartete nie die Reaktion des Auftraggebers ab. Sie sollte Bericht erstatten, nichts weiter. Oft vergingen ganze Reports ohne dass sie ein Wort von ihrem Gesprächspartner hörte. In einigen Fällen wurde ihr Anruf auch nur aufgezeichnet. Sequana interessierte das wenig. „Rasmus Riga ist sauber und ahnungslos. Alles, was er über die Zielperson weiß, beschränkt sich auf die romantisierten Erinnerungen einer gescheiterten Beziehung … und die bereits bekannten Fakten.“

Ein Knacken in der Leitung ließ Sequana aufhorchen. Sie verstummte und wartete schweigend, fast eine Minute lang.

„Agent Sidé, bleiben Sie an Rasmus Riga dran“, erklang schließlich eine blechern verzerrte Stimme.

„Ich hab alle Informationen gegengecheckt“, entgegnete Sequana verärgert, „die Nummer ist durch.“

„Bleiben Sie an Rasmus Riga dran, Agent. Wir werden Sie informieren, wenn wir weitere Schritte einleiten. Bis dahin halten Sie den Kontakt aufrecht.“

Der Screen blinkte auf und ein Symbol wies auf die Trennung der Leitung hin. Sequana fluchte. Sie hatte sämtliche Datenbestände in Rasmus‘ Wohnung gescannt, hatte ihn dazu gebracht, über Ninive zu sprechen, so lange, bis sie es nicht mehr hören konnte. Welchen Grund gab es nun noch, den Kontakt weiter aufrecht zu erhalten? Hatte sie etwas übersehen? Oder gab es noch ein anderes Ziel hinter ihrer Mission, dass sie nicht kannte. Sequana war der Auftraggeber von Anfang an unberechenbar vorgekommen, doch dass er sie als Marionette benutzte und ihr die Parameter ihrer eigenen  Mission nicht mitteilte war ein Fehler. Sie musste den Kontakt zu Rasmus aufrecht erhalten. Oder besser: wieder herstellen, denn in dem festen Glauben, Rasmus als Zielperson von zukünftigen Aktionen ausgeschlossen zu haben, hatte sie nach der Durchsuchung seines Appartements dieses verlassen, bevor er aus dem Bad zurück kam. Es würde nicht einfach sein, das wieder zu bereinigen, aber es war nicht unmöglich. Nur würde Sequana dieses Mal ihr eigenes Spiel spielen. Es gab eine Information hinter dieser Mission, die ihr vorenthalten wurde. Und sie war fest entschlossen, sich einen Wissensvorsprung zu verschaffen.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt