17 | NACKT

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Der Strand von Camaret lag unterhalb einer Mauer aus Natursteinen, die als Abgrenzung zur Straße diente. Es war nur ein schmaler Sandstreifen, doch bevor die große Flut dort gewütet hatte, war es ein hübsches Fleckchen gewesen. In den letzten Jahren waren jedoch große Mengen Seetang angespült worden, die den Strand bedeckten. Muschelreste und Möwenkot rahmten die vertrockneten Tangbüschel ein. Lilian und Ninive kletterten einige in die Mauer eingelassene Eisensprossen hinunter. Ein Stück entfernt standen einige alte Strandkörbe. Viele von ihnen beschädigt, versandet und umgekippt. Lilian steuerte jedoch auf einen zu, der noch weitgehend instand gehalten war. Zwar war das Korbgeflecht an einigen Stellen brüchig und der Stoff der Kissen ausgeblichen und morsch, doch er stand aufrecht, war nicht mit Bergen von Sand gefüllt und es lauerten auch keine Möwen im Inneren.

Lilian warf den Beutel auf die Sitzfläche des Strandkorbs und begann damit, sich auszuziehen. Ninive sah sich um. Sie hatte vermutet, es gäbe hier noch ein verlassenes Haus mit fließendem Wasser oder etwas ähnliches, doch offenbar war das Meer das einzige, was sie zum Waschen nehmen konnten. Sie zuckte mit den Schultern und tat es Lilian schließlich gleich. Offenbar durfte man in Camaret nicht wählerisch sein. Ninive passte also bestens hierher.

„Isaak hat etwas in Erfahrung gebracht, das uns zum schnellen Handeln zwingt“, begann Lilian kurz darauf. Der Grund der Bucht fiel nur sehr seicht ab, und so waren sie ein gutes Stück hinaus ins Wasser gewatet, bis sie bis über den Nabel im Wasser standen. Alle paar Minuten schwappten ein paar höhere Wellen heran, die Lilian sogar bis zur Brust reichten. Ninive warf einen bedauernden Blick an sich selbst hinab, während sie spürte, wie ein leichter Sog landabwärts den Sand aufwirbelte und um ihre Knöchel spülte. Lilian wirkte wie ein Wesen aus dem Meer, das Salzwasser, das über ihre Schultern perlte, wenn eine besonders hohe Welle von der offenen See durch die Bucht rollte. Die tief stehende Sonne tauchte sie in ein sanftes rotes Licht. Sie wirkte fragil und eins mit ihrer Umgebung, eingebettet in den Zwischenraum aus weiter See und endlosem Himmel. Behütet und gleichzeitig verloren. Ninive fühlte sich in ihrem Inneren genau so, wie Lilian wirkte, doch als sie an sich hinab blickte, sah sie nur einen großen, bleichen Körper, der aus der Szenerie ragte. Nackt und fehl am Platz wie ein Leuchtturm in der Brandung.

„Ich bin gleich fertig mit der Seife, dann gebe ich sie dir.“ Lilian hatte nun auch ihr Haartuch abgenommen, beugte sich nach vorne und tauchte ihren Kopf einmal ganz in den Wellen unter. Ninive warf einen Blick auf den schmalen Rücken und die Wirbelsäule, die in dieser Haltung deutlich hervortrat. Dann schüttelte sie sich und wandte den Blick ab, als Lilian wieder auftauchte. Der Anblick war schmerzhaft und schön zugleich. Hätte sie nur ihren eigenen Körper verlassen und über der Szene schweben können, sie hätte Lilian ewig beobachtet. Doch nun wurde sie sich ihrer eigenen Gestalt bewusst und fühlte wieder die selbe Fremde, als wäre ihre Seele in einem Körper gefangen, der ihr nicht entsprach.

Sie erschrak, als sie sich umdrehte. Lilian stand unmittelbar vor ihr und hielt ihr die Seife entgegen. Die dunklen Haare hingen ihr triefend nass über die Schultern. Meerwasser rann ihr über die Haut. Ninive schluckte kurz, bevor sie sich wieder im Griff hatte.

„Danke“, sagte sie und griff nach der Seife. Dann machte sie ein paar Schritte weiter hinaus ins Wasser. Die Nähe Lilians war zu viel für sie.

„Jetzt zu unserem Plan“, Lilian folgte ihr nicht, betrachtete sie jedoch aus einigen Schritt Entfernung. „Isaak hat erfahren, dass die Children of Chou morgen um 13 Uhr die drei verbliebenen Schiffe startklar machen.“

„Die Expedition sollte mit fünf Schiffen starten“, entgegnete Ninive und verteilte die Seife auf ihrem Oberkörper, „was ist mit den anderen beiden passiert?“

„Die standen in den Hangars am vorderen Flugfeld, das sie an die Ossfhang verloren geben mussten. Isaak vermutet, dass General Zervett deshalb zum Handeln gezwungen ist. Ich weiß ja nicht, wie der sonst so drauf ist, aber er machte mir heute einen äußerst unentspannten Eindruck ... Jedenfalls ist es so, dass wir uns an ihre Fersen heften müssen. Und das bedeutet: Wir brauchen eines der Schiffe. Und da es nur noch drei von ihnen gibt, haben wir eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir schleichen uns ein – doch das wäre ein großes Risiko, da uns keine Zeit bleibt, das richtig zu planen – oder aber wir erkämpfen uns eins der Schiffe.“

„Erkämpfen? Wir sind zu sechst!“, entgegnete Ninive. Sie hob die Hand um Lilian zu bedeuten, mit ihrer Antwort zu warten, dann ließ sie sich hinab unter Wasser gleiten. Sie spürte die Wasserbewegung in ihren schwimmenden Haaren, das ewigwährende Wiegen des Meeres, bevor sie ausatmete und den Druck des umgebenden Wassers auf ihre Lungen wirken ließ. Dann tauchte sie wieder auf, die Augen geschlossen, den kühlen Abendwind auf ihrer Haut spürend. Sie fröstelte einen Augenblick, dann rieb sie sich Salzwasser und Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah Lilian wieder an.

Sie war nicht lange unter Wasser gewesen, doch es schien, als hätte ihr das kurze Untertauchen kühle Wogen durch das Gemüt gespült. Sie fühlte sich jetzt leichter. Das Sonnenlicht war schwächer geworden und allmählich bekam das Wasser um sie herum einen dunklen Farbton.

„Keine Sorge“, setzte Lilian das Gespräch fort, als hätte es keine Pause gegeben. „Wir haben Somatoniker unter uns. Und wenn es nicht gerade gegen Ossfhang geht, sind Seamus und ich mit herkömmlichen Waffen und dem Überraschungsvorteil auf unserer Seite sehr effektiv.“

„Seamus und du...? Das bedeutet, die anderen sind Somatoniker?“ Ninive gab Lilian die Seife zurück und kam langsam ein paar Schritte näher.

„Nein, Martin nicht. Er hat einen Sonderauftrag. Er muss sich in einen der Hangar einschleichen und eine Ortungssignatur an Zervetts Schiff installieren, damit wir ihnen folgen können. Isaak ist Somatoniker, ein sehr guter sogar, aber ich weiß nicht, warum er das kann ... er stammt jedenfalls aus keinem mir bekannten Klonprogramm.“

„Ich hatte in Paris am Institut Einsicht in viele Forschungsprogramme, mir ist weder er noch Ilyena aufgefallen“, erwiderte Ninive.

„Ilyena ist nicht ganz so mysteriös, auch wenn sie das selbst nicht gerne hört“, Lilian kicherte leise und deutete zum Strand zurück. „Sie gehört zum Schwarzen Turm. Oder vielleicht sollte man sagen, dass sie aus deren Reihen stammt. Ich weiß nicht, ob sie sich noch als Teil davon sieht. Der Schwarze Turm ist eine Art Gemeinschaft, die von einem Klon gegründet wurde, der sich vom Institut für Sangre-Forschung abgesetzt hat. Aber nicht in Paris, sondern ...“

„Sondern in München“, ergänzte Ninive, während sie sich immer weiter dem Strand näherten. „Davon habe ich gehört. Sein Name ist Corbinian Trent. Bevor er sich in die Alpen zurückzog und diese Gemeinschaft aufbaute, hat er in München ganze Vororte zerlegt. Die Deutschen arbeiteten zu der Zeit noch nicht mit Neurohemmern sondern mit irgendwelchen langanhaltenden Tranquilizern. Barbarisch, wenn du mich fragst, und dennoch halte ich Corbinian Trent für einen geflohenen Schwerverbrecher.“

„Er war in einem Institut eingesperrt ohne Entscheidungsgewalt über sein eigenes Leben“, warf Lilian ein und ließ sich ein paar Schritte zurückfallen.

„Richtig, aber es gibt Mittel und Wege, auf diese Art zu funktionieren“, entgegnete Ninive ohne langsamer zu werden.

„Du weißt es sicher am besten“, Lilian zuckte mit den Schultern. „Aber sprich Ilyena nicht auf das Thema an, sie hat ihre eigenen Ansichten ... obwohl ich gestehen muss, diese auch nicht wirklich zu kennen. Vielleicht glaube ich nur, dass sie anderer Meinung wäre? In Wirklichkeit weiß ich nicht, wie sie zu Trent und dem Schwarzen Turm steht.“

„Keine Sorge, ich habe mit ihrer Art von Gespräch bereits Bekanntschaft gemacht. Viel mehr interessiert mich, was du über Isaak weiß.“

„Um ehrlich zu sein, weiß ich eigentlich fast nichts über ihn. Aber du solltest mit ihm direkt sprechen, ich glaube, er wird dir mehr erzählen als mir. Er war es, der dich um jeden Preis hier haben wollte.“ Lilian lachte leise und glucksend. „Vielleicht hat ihn deine äußerst sehenswerte Rückseite überzeugt.“

Ninive zögerte für einen Atemzug, dann setzte sie ihren Weg fort und trat die letzten Schritte durch eine kleine Kiesrinne hinaus auf den Strand. Erst dann drehte sie sich um.

„Wenn er auf eine zu große Frau mit etwas zu viel Muskeln steht, dann vielleicht“, sie versuchte es beiläufig klingen zu lassen.

„Ach was, bla bla bla“, entgegnete Lilian und kam neben ihr auf dem Trockenen an. „Erzähl mir nicht, jemand wie du hat Selbstwertprobleme. Wenn doch, kauf dir einen Spiegel.“

Lilian ging zum Strandkorb und holte zwei Tücher zum Abtrocknen aus dem Leinenbeutel. Sie warf Ninive eines davon zu und begann sich abzutrocknen. „Ich habe Seamus einen seiner Hoodies abgenommen. Es ist zwar nicht das modischste Teil, aber es sollte dir passen. Zieh es über den Jumpsuit, die Nächte in Camaret werden kälter.“

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt