33 | MARTIN

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Es war still geworden in der Mannschaftsmesse. Nachdem Lilian das Schiff auf Kurs gebracht hatte und sie die Ortungssignatur lokalisiert hatten, die Martin an dem Schiff der Children of Chou angebracht hatte, hatte sich die Gruppe dort zum Essen eingefunden. Sie waren sich alle einig gewesen, dass Lumière an Bord nicht willkommen war, doch sie konnten ihn auch nicht ohne weiteres zurück zu den Ossfhang schicken. Immerhin hatte Rasmus berichtet, dass er durch ihn gerettet worden war. Natürlich kannte niemand die genauen Gründe dafür, und so lange sie unschlüssig waren, wie sie mit Lumière verfahren sollten, blieb er in einer verriegelten Kabine eingesperrt.

Seamus war als einziger noch in der Messe geblieben. Rasmus war ins Cockpit gegangen um die Protokolle des Autopiloten zu überwachen, die übrigen in ihre Kabinen auf dem mittleren Deck, die sie noch vor dem gemeinsamen Essen aufgeteilt hatten. Er selbst fühlte sich noch nicht bereit, den Tag zu beenden. Außerdem traute er Rasmus nicht. Er hielt ihn nicht für gefährlich, und er glaubte Ninive auch, dass er ein guter Freund war, der keine Gefahr darstellte, doch sein Auftauchen hielt Seamus für einen zu großen Zufall, als dass er ihn gleich am ersten Abend mit dem vollen Zugriff auf die Schiffssteuerung betraut hätte. Er hatte überlegt, zu ihm ins Cockpit zu gehen, doch andererseits wollte er nicht, dass sein Argwohn schon in der ersten Nacht an Bord zu Unstimmigkeiten führen könnte.

Er legte die Füße hoch und dachte an das Essen. Die Stimmung war trotz aller Strapazen des Tages und dem Verlust eines Mitstreiters euphorisch. Natürlich war die Anspannung bei jedem spürbar, und doch fühlten alle, dass sie einen wichtigen Schritt auf ihrem Weg erfolgreich gemeistert hatten. Lilian hatte sie fast das ganze Essen über unterhalten. Kaum an Bord und schon erzählte sie ihr Seemannsgarn von ihrer Kindheit in der Forschungskolonie und den Geschichten der Soldaten und Wissenschaftler, die dort stationiert waren.

Ilyena kommentierte das alles mit ihrem spärlichen aber treffenden Sarkasmus. Sie und Lilian zusammen waren äußerst unterhaltsam, solange man ihr Freund war. Er selbst konnte sich ebenfalls mit Kommentaren nicht zurück halten, doch Seamus hatte im Nachhinein oft das Gefühl, dass die Blicke und Lacher, die er erntete, mehr aus Mitleid geschahen. Er war nicht gut mit Worten, das wusste er, doch wenn er guter Laune war, vergaß er das gerne.

Ninive und Rasmus unterhielten sich anfangs untereinander, ohne die anderen einzubeziehen. Später jedoch stieg Rasmus in das Gespräch mit ein, und Seamus bewundert ihn dafür, dass er vom ersten Moment an nicht mehr wie ein Fremder in der Runde wirkte. Ninive hingegen war schweigsam, wie die letzten Tage auch schon. Sie stellte immer nur dann eine Frage, wenn es etwas wissenswertes in Erfahrung zu bringen gab. Ansonsten hatte sie aufmerksam zugehört und hin und wieder stumm gelächelt. Seamus mochte sie, doch sie schien ebenso wenig geschickt mit Worten zu sein, wie er. Martin hatte sie natürlich mit seinem Charme schnell in Gespräche verwickelt gehabt, doch Seamus konnte das nicht ersetzen.

Isaak war wie immer. Er nahm am Gespräch teil und war präsent ohne viele Worte. Jeder erinnerte sich am nächsten Tag noch daran, dass er die Stimmung und Ausgelassenheit bestimmt hatte, doch keiner wusste so genau, was er eigentlich gesagt hatte. Doch alle wussten, dass Isaak sie führen würde, und so lange er seine Mannschaft einen fröhlichen Abend verbringen ließ, solange fühlten sie sich sicher. Martin hatte dennoch gefehlt. Das war wohl niemandem so sehr aufgefallen wie Seamus. Die anzüglichen Sprüche, die er mit einem Augenzwinkern machte, das ihm niemand übel nehmen konnte, das Casanova-Image, das er pflegte — Seamus hatte das immer auf eine nette Art und Weise genervt. Dieser Aspekt fehlte an diesem Abend.

Seamus sah zu der kleinen Kiste, die er am Nachmittag im Frachtraum aufgetrieben hatte. Eine Flasche Bier war noch übrig. Er griff danach und drehte sie unschlüssig in seinen Händen, bevor er sie schließlich öffnete. Er dachte an sein erstes Treffen mit Martin zurück. Er war einem neuen Sec-Team zugeteilt worden, nachdem sein vorheriges Team beim Erstürmen einer Konzernfiliale, in der eine Geiselnahme stattfand, bis auf ihn und einen weiteren Kollegen, der nach dem Einsatz im Krankenhaus landete, getötet worden war. Martin war zweiter Teamführer und auf den ersten Blick ein großspuriger Kerl ohne nennenswerte Kampferfahrung. Das Team war für Einsätze im Personenschutz und der Koordination von Sicherheitskonzepten bei wichtigen politischen Anlässen eingeteilt. Seamus' Versetzung in das Team war eine Art Belobigung für seine jahrelange Arbeit in Sec-Teams in den Vororten und bei schweren Fällen wie Geiselnahmen oder öffentlichen Unruhen. Er brachte Martin und dem Rest des Teams anfangs wenig Respekt entgegen. Und mit Ausnahme Martins hatte er seine Haltung auch nie geändert.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt