Sie hatten sich wieder in die Wellblechhütte zurückgezogen, die dem Sicherheitszaun am nächsten war. Ninive berichtete Seamus und Martin von dem Gespräch. Lilian, die diese Informationen bereits gehört hatte, hielt an der Tür Wache. Sie hatte einige Zeit angestrengt über das Rollfeld zum fernen Hauptkomplex des Aéroport gespäht, doch ihr fehlten Ninives Fähigkeiten um etwas erkennen zu können. Eine gespenstische Stille lag über dem Gelände – oder vielleicht war das nur ihre Einbildung? Sie rief sich zur Ruhe.
Es war nicht die freie Natur, die Lilian beunruhigte. Sie war in Station au Crépuscule geboren und aufgewachsen, einer Forschungsstation in den Pyrenäen nahe Andorra. Ihr Vater war der Leiter des Wissenschaftsteams, das die Naturphänomene auf der Iberischen Halbinsel untersuchen sollte. Seit eine große Flut die ehemaligen spanischen und portugiesischen Küsten verwüstet hatte und Monate andauernde Niederschläge, die meteorologisch bislang nicht erklärbar waren, den Rest des Landes unter Wasser setzten, war niemand mehr von südlich der Gebirgskette gekommen. Das galt auch für Lilians Vater, der schließlich mit einigen seiner Leute einen Vorstoß in die katalanische Küstenebene wagte und nicht wiederkam.
Lange hatte Lilian gewartet, Tage, Wochen und Monate, doch von den Wissenschaftlern fehlte jede Spur. Irgendwann beschloss die Regierung, die Station zu schließen. Lilians Mutter, eine Soldatin aus Paris, und einige andere Bewohner der Station entschieden jedoch zu bleiben. Und so wurde aus der Station der Ort Val-de-Crépuscule, die südlichste Siedlung des Pariser Einflussgebiets. Erst Jahre später – Lilian war mittlerweile 15 Jahre alt – fuhr sie zum ersten Mal in ihrem Leben in die große Stadt. Und das nicht ganz freiwillig. Ihre Mutter – die als Kommandantin der fünfköpfigen Division des Ortes eingesetzt worden war, nachdem sich Paris dagegen entschieden hatte, die ehemalige Station zwangsräumen zu lassen – wurde in Paris angeklagt. Lilian erfuhr erst vor Ort in Paris, dass ihre Mutter vor ihrer Stationierung in den Pyrenäen geheiratet hatte und diese Ehe nie aufgelöst worden war. Während die Untersuchungen und Verhandlungen liefen, verlor sie den Kontakt zu ihrer Mutter und heuerte bei einem Konzernwachdienst an.
Ein Geräusch zu ihrer Rechten riss Lilian aus ihrer Erinnerung. Sie griff nach der Shotgun und entfernte sich zwei Schritte von der Tür. Den Lauf der Waffe voran spähte sie um die Ecke der Hütte. Gut fünfzig Meter entfernt von ihr zwischen einigen der niedrigen Gebäude, die sie kurz zuvor noch durchsucht hatten, erblickte sie drei Gestalten, hochgewachsen und mit langen sichelartigen Beinen. Der Oberkörper wirkte fast menschlich, mit sehnigen Armen, die in langfingrige Hände übergingen. Die Haut war grau wie stumpfer Marmor und sah aus wie mit Chitinschuppen besetzt. Ihre Gesichter wurden dominiert von großen Facettenaugen, während ihre sonstigen Gesichtszüge verkümmert wirkten, mit kleinen Nasen, die kaum mehr als Atemlöcher waren. Anstatt der Haare hatten sie nach hinten abstehende Chitinstacheln, die sich entlang ihres Nackens die Wirbelsäule hinab erstreckten. Die Geschlechtsmerkmale der unbekleideten Ossfhang waren menschenähnlich und zumindest bei den männlichen von ihnen nicht mit Chitin bedeckt. Lilian dachte eine Sekunde daran, dass es beruhigend war, dass die Evolution offenbar auch bei diesen nach Raubtieren aussehenden Humanoiden Konstruktionsfehler gemacht hatte, dann löste sie sich jedoch von dem Anblick der Ossfhang und verschwand wieder hinter der Ecke der Hütte.
„Draußen sind Ossfhang, keine drei Gebäude weiter“, zischte sie ins Innere der Hütte, nicht sicher seiend, wie gut das Gehör der Wesen war. „Sie scheinen zu dritt zu sein, vielleicht ein Spähtrupp, aber ich will lieber nicht darauf warten, dass die Herde ihnen folgt.“
„Kommen wir ungesehen durch den Zaun?“, fragte Seamus ohne Zögern.
„Wenn die wirklich so schnell sind, wie Ninive gesagt hat, bezweifel ich das. Sie sind groß und sehen nicht nach guten Kletterern aus, wenn wir sie ablenken könnten, so dass wir es durch den Zaun schaffen, bevor sie uns erreichen, könnten wir Glück haben und sie im Dickicht abhängen.“ Lilian warf einen erneuten Blick um die Ecke des Gebäudes, einer der Ossfhang hatte sich vor einem der Gebäude postiert, die anderen beiden waren nicht zu sehen. Vielleicht waren sie im Gebäude verschwunden? Das taktische Verhalten der Wesen wies offensichtlich ebenfalls Ähnlichkeiten zu dem der Menschen auf.
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Solheim 01 | EUROPA
Science FictionWenn du vor der Wahl stehst die Zukunft der Menschheit oder deine eigene Vergangenheit zu retten, wie würdest du dich entscheiden? Vor diesem Konflikt steht Ninive Solheim, als sie im Jahr 2113 zu einer Reise aufbricht, die schon bald alles andere...