07 | SEAMUS

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Als Lilian in das Abteil zurückkehrte, war Ninive verschwunden. Sie war nicht besonders überrascht, eine Handschelle als einzige Sicherheit gegen eine Sangre-Agentin war nicht gerade eine Glanzleistung gewesen, doch Lilian hatte nur wenig Zeit zum Handeln und der Gedanke, Ninive in ihrem Abteil festzuhalten war ohnehin eine Improvisation. Doch auch Ninive schien nicht sehr besonnen vorgegangen zu sein. Der Holzboden an der Ecke des Bettes war zersplittert und zeigte deutliche Schusspuren der schweren Shotgun. Die Schubladen der Kommode waren rausgerissen und ihre Kleidung durchwühlt worden, das Kopfkissen hatte Blutspuren, der Sessel war nach hinten gekippt und die Polster wie auch die Matratze waren aufgeschlitzt.

Immerhin war Ninive gründlich gewesen, wenn sich Lilian auch gewünscht hätte, sie wäre etwas subtiler vorgegangen. Aber vermutlich spielte das jetzt keine Rolle mehr. Die Tür des Abteils war unbeschädigt und abgeschlossen, und da auch die Fenster nicht geöffnet waren, konnte sich Ninive nur im Bad versteckt haben. Lilian zog die Taser Gun aus ihrem Hosenbund und schob langsam die Tür zum Bad auf.

„Halt!“

Lilian ließ die Taser Gun sinken, als sie direkt in den Lauf einer Pistole blickte.

„Ninive, lass mich erklären …“, begann Lilian, doch Ninive schnitt ihr das Wort ab.

„Wirf den Taser weg! Hast du noch andere Waffen bei dir?“

„Nein“, Lilian legte die Taser Gun auf den Boden und trat sie mit dem Fuß zurück in Richtung Bett. Sie rechnete ihre Chancen aus, einen direkten Angriff auf Ninive zu starten, doch die Gefahr, sie oder sich selbst dabei ernsthaft zu verletzen, war zu groß. Außerdem war mit einem Klon, der unter Stress stand, nicht zu spaßen.

Ninive musterte Lilian offensichtlich auf der Suche nach möglichen weiteren Waffen. Lilian warf einen schnellen Blick auf ihren weiten Kapuzenpullover und die Cargohose. Darunter konnte sie ein ganzes Arsenal an Waffen tragen. Ninive würde ihr nicht glauben, solange sie weitere Waffen vermutete. Also blieb nur eine Möglichkeit. Lilian zuckte mit den Schultern und griff nach dem Saum ihres Pullovers.

„Halt! Was wird das?“, Ninive fuchtelte mit der Pistole vor Lilians Gesicht rum.

„Du willst doch sicher einen Beweis dafür, dass ich keine weiteren Waffen trage, richtig? Ich ziehe jetzt Pullover und Hose aus, damit du dir sicher sein kannst, und dann hörst du mir zu, in Ordnung?“

Ninive nickte zögernd, trat aber dann einen halben Schritt zurück – mehr ließ das kleine Bad nicht zu – und entspannte sich etwas. Lilian zog sich den Pullover über den Kopf und öffnete den Gürtel ihrer Armeehose.

„Du musst wissen, dass ich dich nur zu deinem eigenen Schutz gefesselt habe. Es gibt ein paar Sachen, die du wissen solltest …“

Ninive ließ die Waffe ein paar Zentimeter sinken. „Und was wäre das …?“

Lilian hielt für eine Sekunde inne und sah Ninive an. Offenbar ging ihr Plan auf. Sie ließ die Hose herunter gleiten und beobachtete Ninive erneut. Eine zufällige, grazile Bewegung ihres schmalen, sehnigen Körpers, der nun nur noch in einem engen, schwarzen Body steckte, reichte aus, um den Klon abzulenken. Lilian hatte vermutet, dass Ninive es nur deshalb auf diese Mission geschafft hatte, weil sie sich Stück für Stück aus der Abhängigkeit der Neurohemmer befreit hatte, und sie bewunderte sie dafür. Doch in einem solchen Fall reichte ein kleiner, unerwarteter sexueller Reiz aus, um den Klon aus dem Konzept zu bringen. Und wenn auch nur für eine Sekunde.

Lilian griff an ihren Hinterkopf zum Haarknoten unter dem Kopftuch. Blitzschnell zog sie eine kurze, dünne Nadel hervor, sprang vorwärts und stach sie Ninive seitlich in den Hals, während sie mit der linken Hand nach der Pistole griff. Ein Schuss löste sich, der die Holzverkleidung der Decke durchschlug, dann fielen Ninive, Lilian und die Pistole zu Boden.

Ninive griff nach Lilians Handgelenk, doch ein Gefühl von Trägheit durchlief bereits ihren Körper. Lilian thronte über ihr und ihre Knie drückten so auf ihre Schlüsselbeine, dass jede Bewegung der Arme und des Oberkörpers schmerzte.

„Entschuldige, aber es ist die einzige Möglichkeit, dich zu retten“, hörte sie Lilian bedauernd sagen, dann verschwamm die Umgebung um sie herum und ihr wurde schwarz vor Augen.

Die Wunde vom Lauf der Shotgun an der Schläfe hatte aufgehört zu bluten, doch als Ninive im Gerangel mit Lilian zu Boden gefallen war, hatte sie sich den Hinterkopf aufgeschlagen. Die Wunde blutete nicht stark, doch Lilian wollte kein Risiko eingehen. Aus einem kleinen Notfallkasten unter dem Waschbecken holte sie Verbandszeug und versorgte Ninives Kopfwunden, bevor sie zur Tür des Abteils ging und Seamus hereinließ.

Der hochgewachsene Mann, der aber fast ebenso schmal war wie Lilian, zog den Kopf ein, als er durch die Tür ins Abteil schlüpfte. Er warf Lilian ein Grinsen zu und sah sich im Abteil um.

„Ihr habt es aber wild …“ Lilian schnitt ihm scharf das Wort ab: „Spar dir den Scheiß! Überleg dir lieber, wie wir unseren Klon hier rauskriegen, ohne dass wir das halbe Militär auf den Fersen haben.“

Seamus lachte: „Da ich wusste, wie deine Art der Überredung aussieht, habe ich schon vorgesorgt. Wegen der Reparaturen läuft die Stromversorgung auf Sparflamme und ich habe die Abweiser überbrückt. Wir können einfach aus dem Fenster. Aber zieh dir vorher was an, ist kalt draußen.“

Lilian warf einen Blick aus dem Fenster, bevor sie sich ihre Kleider angelte und anzog. Ein paar Meter offene Böschung mussten sie überwinden, dann empfing sie das schützende Gewirr aus Unterholz und Buschwerk. Schützend zumindest vor den Blicken der Crew des Zugs. Die Gefahren, die in der Wildnis lauerten, waren eine ganz andere Sache. Aber ein Problem nach dem anderen.

Es war eine mühsame Arbeit, Ninive durch das kleine Zugfenster nach draußen zu bugsieren. Seamus hatte ihr mit einigen aus dem Bettlaken gerissenen Streifen Beine und Handgelenke gefesselt, um sicher zu gehen, dass Ninives erste Reaktion nach ihrem Erwachen sie nicht alle vernichten würde. Doch das erschwerte das Tragen nur noch mehr. Immerhin hatte Seamus mit dem Ausschalten der Abweiser gute Arbeit geleistet. Diese seitlich an den Waggons angebrachten Leitschienen standen bei normalem Betrieb unter Hochspannung und machten ein Aussteigen fast unmöglich. Der Weg die Böschung herunter verlief schnell und ohne Zwischenfälle, doch als sie schließlich im schützenden Unterholz angekommen waren, ließ sich Lilian zu Boden fallen und atmete tief durch.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt