59 | ABSCHIED

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Die Kleidung saß etwas weiter, als es Ninive gewohnt war, doch angesichts der aktuellen Umstände wollte sie sich darüber nicht beklagen. Sie hatte die Nacht in Isaaks Kabine verbracht. Er hatte nicht nach dem Grund dafür gefragt, als sie ihn bat, bei ihm schlafen zu dürfen, und hatte ihr sein Bett überlassen. Es waren die Träume, vor denen Ninive Angst hatte, auch wenn ihr das jetzt am nächsten Morgen nicht mehr sehr logisch erschien. Doch die Vorstellung, dass sie im Traum an den Ort zurückkehren könnte, von dem sie gerade erst geflohen waren, ließ ihr keine Ruhe.

Ninive nahm einen großen Schluck Tee und beobachtete Isaak, der sich gerade einen Pullover anzog. Ninive riskierte einen letzten Blick auf seine Bauchmuskeln, als sich das T-Shirt dabei nach oben zog. Sie waren am Vorabend im strömenden Regen zum Schiff zurückgekehrt. Lilian hatte die Wache übernommen, als sie ankamen. Während Ninive, durchgefroren wie sie war, in Isaaks Kabine ging und eine heiße Dusche nahm, hatte er noch mit Lilian gesprochen. Erst als Ninive sich in seine Bettdecke gewickelt hatte, kam auch Isaak zum Duschen herein. Sie beobachtete ihn durch die Rauchglasscheibe, die die Nasszelle vom Rest der Kabine abtrennte, und schlief ein, bevor er sich im Sessel schlafenlegte.

„Du siehst so zivilisiert aus", kommentierte Ninive, als Isaak den Saum des Pullovers heruntergezogen hatte. „Bist du dir sicher, dass du weißt was du tust?"

„Ich habe keine Zweifel", entgegnete er ohne zu zögern. „Mit Lilian habe ich bereits gesprochen, sie ist vorbereitet."

„Wie hat sie reagiert?"

„Sie hat mich schwören lassen, dass ich es nicht für Nina tue."

Ninive stellte ihre Tasse zur Seite und stand vom Bett auf. Isaak sah sie an. „Wollen wir ...?"

„Ich bin bereit", antwortete Ninive und strich ihm mit ihrer Hand flüchtig über den Arm. Er nickte, dann öffnete er die Kabinentür und sie machten sich auf den Weg.

Als sie in die Mannschaftsmesse kamen waren bereits alle anwesend. Lilian hatte auch Lumière geholt, der zwischen ihr und Rasmus am großen Tisch saß. Seamus unterhielt sich mit Eva, Solvejg und Ilyena saßen auf der anderen Seite des Tischs und sahen so aus, als fehlten ihnen einige Stunden Schlaf. Isaak trat an das Kopfende des Tischs und augenblicklich kehrte Ruhe ein.

„Guten Morgen alle zusammen", begann er, um die Spannung, die sich augenblicklich aufgebaut hatte, zu lösen. „Ich weiß nicht genau, was Lilian bereits erzählt hat, aber es haben letzte Nacht zwei wichtige Ereignisse stattgefunden. Einerseits kam in den frühen Morgenstunden vom Schiff der Children of Chou wieder ein Signal. Sie sind vor wenigen Stunden gestartet. Soll unser Schiff die Verfolgung aus sicherem Abstand aufnehmen, sollte es in den nächsten zwei bis drei Stunden abheben. Andererseits habe ich eine Entscheidung getroffen."

Isaak hob entschuldigend die Hand, als seine Stimme rau wurde. Er griff nach einer der Wasserflaschen auf dem Tisch und nahm einen großen Schluck. „Ich werde euch bei eurer Suche nach der Quelle des Sangre nicht begleiten. Zervett und seine Children of Chou müssen verfolgt werden, aber ihr müsst es ohne mich machen."

Er wartete nicht lange ab und unterbrach die Fragen und überraschten Reaktionen sofort. „Es gibt noch einen zweiten Weg, den Weg des Sangre zurückzuverfolgen. Ich habe etwas über die seltsamen ... Tore herausgefunden, die ich mit Ilyena in Camaret untersucht habe. Sie sind ein Produkt der Sangre-Energie und werden von den Children of Chou als Korridore bezeichnet. Ninive und ich sind gestern auf einen solchen Durchgang gestoßen. Und wir hatten Glück, diesen Fund lebend zu überstehen. Es ist der deutlich gefährlichere Weg sich dem Sangre zu nähern, doch ich muss ihn für mich in Betracht ziehen."

„Warum?", fragte Seamus sofort. „Ist es nicht klüger, wenn wir zusammen bleiben? Wir können den Children of Chou jetzt noch aus sicherer Entfernung folgen, aber irgendwann kommen wir an deren Ziel an, und wer weiß, was uns dort erwartet. Wir brauchen dann vielleicht jeden einzelnen von uns."

„Das ist eine Möglichkeit, Seamus, ich weiß", Isaak warf Lilian einen kurzen Blick zu, die daraufhin aufstand und neben ihn an den Tisch trat. „Aber wir dürfen den anderen Weg nicht unversucht lassen", fuhr er fort. „Es gibt zwei Wege, der Spur des Sangre zu folgen. Einer führt über die Children of Chou, ein anderer über das Klonprogramm. Ich trage das Sangre selbst in mir, auch Ninive hat es. Wir werden zu zweit versuchen, Zugang zu dem Ort zu finden, an dem das Chaos entstand, das über unsere Welt gekommen ist."

Schweigen setzte ein und einige der Anwesenden nickten zustimmend. Isaak sah zu Ninive, die erleichtert nickte. Sie hatten beide mit einer größeren Diskussion gerechnet, doch entweder war nach der Party der letzten Nacht niemand in der Lage, viel Energie dafür aufzubringen, oder sie folgten noch immer Isaaks Entscheidungen.

„Ich habe mit Lilian bereits letzte Nacht gesprochen", setzte Isaak noch einmal an, „sie wird das Steuer übernehmen. Sie weiß alles, was ich weiß. Euch allen habe ich eine Kopie der Unterlagen im Schiffssystem hinterlassen, die ich von den Children of Chou stehlen konnte."

„Wir werden in einer Stunde starten und Zervetts Schiffen folgen", übernahm Lilian die Ansage. „Wir haben keine Zeit zu verlieren, doch vorher ... Lumière wird uns als volles Mitglied unserer Crew zur Verfügung stehen. Ninive und Isaak haben in den Korridoren letzte Nacht etwas herausgefunden, das beweist, dass er auf unserer Seite ist."

Ninive beobachtete den Mann, der einst ihr Bruder Cygne gewesen war. Sequanas Erzählung über die Jugend von Sasha und Cygne war nicht gerade das, was sie einen Beweis nennen würde, doch sie verstand, dass Lilian mit Zweifeln sparsam umgehen musste, bis das Team wieder unterwegs war.

„Lumière hat eingewilligt, dass er so lange keine Waffe tragen wird, bis er jeden an Bord von seiner Loyalität überzeugt hat", ergänzte Lilian. „Somit bleibt nur noch eine Frage offen ... ist jemand hier, der mir nicht folgen will? Wir sind hier am Rande einer Stadt, an der wir alle in der Lage wären, ein normales Leben zu führen. Hier sucht uns niemand, nicht wie in Paris. Ich bezweifel, dass wir auf dem weiteren Weg noch einmal das Glück haben werden, einen solchen Ort zum Aussteigen zu finden?"

Sie warf einen Blick in die Runde. Seamus grinste sie aufmunternd an. Es war keine Frage, dass er mit an Bord bleiben würde. Auch Lumière hatte seine Wahl bereits getroffen.

„Ich war in diesen Freak-Höhlen der Ossfhang", sagte Ilyena, „da bleibe ich lieber mit dir an Bord. Außerdem braucht ihr jemanden, der die Energie in sich trägt."

„Rasmus?", wandte sich Lilian an den letzten verbliebenen Mann, der noch nicht seine Entscheidung geäußert hatte. Rasmus fuhr sich mit der Hand durch den Bart und nickte dann entschlossen. „Ich bin mit dabei."

„Was uns betrifft", meldete sich jetzt Eva von der anderen Seite des Tischs, „wir können Isaak und Ninive bei uns solange aufnehmen, bis sie ... bis alle ihre Angelegenheiten hier in der Stadt geklärt sind. Außerdem geht es bei dem Klonprogramm auch um Solvejg. Ich habe einige Kontakte und allein schon beruflich ein Interesse daran, mehr darüber herauszufinden."

Der Abschied war kurz. Lilian und ihre Crew hatten keine Zeit zu verlieren um das Schiff startklar zu machen. Ninive und Isaak packten eilig ihre Habseligkeiten zusammen – was in Ninives Fall praktisch nichts war, da sie die in Camaret mühsam zusammengesammelten Werkzeuge und Waffen an Bord zurückließ – und brachen dann auf. Ninive beobachtete Isaak, als er sich mit einer kurzen Umarmung von seiner Crew verabschiedete. Ihr wurde erst in diesem Moment klar, dass er ihr zuliebe sein Team zurück ließ. Für einen fast schmerzhaften Augenblick wollte sie ihm sagen, er solle sie in der Obhut von Eva und Solvejg lassen und wieder an Bord gehen, doch sie wusste, dass sein Entschluss endgültig war.

Eva führte die kleine Truppe an, als sie durch die Reihen aus Containern dorthin zurückgingen, wo sie am Abend zuvor aufeinandergetroffen waren. Sie suchten das Loch im Zaun und überquerten dann die breite Industriestraße. Als sie schließlich bis auf die Knochen durchnässt den Eingang zur Bahnstation erreichten, die sie in die Hamburger Innenstadt bringen sollte, hörten sie das Starten der Triebwerke des Schiffs. Sie hielten inne und drehten sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Doch nichts war zu sehen.

„Lilian macht sich gut als Pilotin", sagte Isaak ruhig. „Es wird kaum jemand ein startendes Schiff gesehen haben."

„Jetzt sind sie weg", stellte Solvejg schlicht fest.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt