74 | FILM NOIR

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Ein guter Schütze hat niemals Blut an den Händen. Freie Sicht und die richtige Gelegenheit, beides erforderte Geduld mehr als Glück. Und Geduld hatte sie über die Jahre in van Ijssels Diensten gelernt. Sie hatte Clef nicht gehasst. Eigentlich hatte sie im Laufe der Jahre nach dem Untergang Amsterdams sogar eine gewisse Sympathie für den gutaussehenden Geschäftsmann mit der rabenschwarzen Seele entwickelt.

Aber zur Geduld gehörte eben auch, dass man sein Ziel nicht aus den Augen verliert. Und so zögerte Fenja keine Sekunde, als sie benommen vom hinterhältigen Schlag Galleas auf dem staubigen Boden lag und die vorbeistürmenden Secs hörte.

Sie hatte sich aufgerappelt und dann ihr Scharfschützengewehr geholt. Sie kannte die Umgebung um Muiderpoort gut und es war kein Geniestreich, sich mit Sicht auf die Eingangshalle der Station zu positionieren. Und dann war da dieser Krüppel, der allen Ernstes Clef van Ijssel mit einer halben Armee im Rücken herausforderte. Doch es kam Fenja äußerst gelegen, und so machte sie sich keine weiteren Gedanken um den Mann mit den Krücken.

Der erste Schuss verfehlte. Die Entfernung war groß, doch Fenja erschrak dennoch. Sollte sie am Ende doch zu sehr unter Clefs Einfluss geraten sein? Sie konzentrierte sich und legte neu an. Clef hatte sich umgedreht und seine Stirn war nun wie eine Zielscheibe für sie. Der zweite Schuss beendete die Herrschaft van Ijssels in Amsterdams Ruinen.

Auf diese Art schaltete Fenja noch fast zwei ganze Sec-Teams aus. Die restlichen Secs erledigte sie auf ihrem Weg zurück zu van Ijssels Hauptquartier. Fenja war van Ijssels tödlichste Waffe gewesen, und jetzt war sie in eigener Mission unterwegs.

Die verbliebenen Wissenschaftler hatte sie hinterrücks bei ihrer Arbeit erschossen. Es erschien ihr gnadenvoll, bezweifelte sie doch, dass auch nur einer von ihnen in den Ruinen alleine überleben würde.

Doch jetzt wollte sie nicht länger an das Blutbad denken. Sie hatte geduscht, nachdem auch der letzte Sec aufgehört hatte zu atmen. Dann hatte sie ihr Make-up erneuert und ein sauberes Kleid angezogen. Und dann war sie aufgebrochen zum Prototypen. Das Lichtspiel verschlang sie und das Gefühl des Weltenübergangs versetzte sie in unbändige Vorfreude.

Und jetzt saß sie dort auf der Bank am Bahnsteig, im Bahnhof im großen Tal. Sie trug ihren eleganten Mantel und eine schwarze Rose ins Haar gesteckt und wartete auf den letzten Zug, der die Station verlassen würde. Sie dachte an Victor in seinem weißen Leinenanzug, an seinen schmalen Oberlippenbart und die sorgfältig gezupften Augenbrauen. Er hatte versprochen sie abzuholen, doch ihr Warten war immer vergebens gewesen.

Fenja sog die Luft ein und vernahm den Duft eines Sommers, der schon lange Geschichte war. Mit geschlossenen Augen ging sie durch die schmalen Wege des kleinen Heckenlabyrinths, bis sie den Ausgang fand, den sie nie zuvor genommen hatte. Es war ihr gemeinsamer Ausgang gewesen. Sie wollten ihn eines Tages zusammen nehmen. Sie und Victor. Vorbei an den trockenen Stauden und über die grünen Rasenflecken, die den weichen Boden unter den hohen Weiden durchzogen.

Und dann kam das Ufer. Die beiden hölzernen Boote lagen im Schilf. Sie löste die Leinen. Zuerst von einem der Boote, dann von dem anderen. Mit einem kräftigen Schub stieß sie beide hinaus auf den See. Die kleinen Wellen betrachtend verlor sie die Boote aus dem Blick. Ihre letzte Gelegenheit mit Victor auf den See hinaus zu fahren und ein anderes Ufer zu erreichen war vorüber.

Der Zug fuhr ein, und Fenja öffnete die Augen wieder. Sie stand von der Bank auf und griff nach ihrem Koffer. Sie ignorierte das Quietschen der Bremsen und wartete geduldig, bis die Waggons zum Stehen gekommen waren. Unschlüssig blickte sie nach links und rechts den Zug entlang. Es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sich schließlich eine Wagentür öffnete und eine Hand aus dem Waggon gestreckt wurde um sie heranzuwinken.

Fenja reichte der helfenden Hand ihren Koffer hoch in den Zug, dann zog sie ihr Kleid zurecht und stieg die wenigen, metallenen Stufen hinterher. Schließlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

Die Boote trieben bereits in der Mitte des Sees, als das Gewitter aufzog. Graue Wolken als Vorboten des Sturms. Fenja trieb mit dem Gesicht zum Himmel im kalten Wasser. Wie oft hatte sie davon geträumt sich treiben zu lassen. Und jetzt? Träumte sie wieder? Oder trieb sie endlich wirklich ab?

„Entschuldigen Sie?", fragte sie den vorbeikommenden Schaffner. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich den richtigen Zug genommen habe."

„Das glaube ich nicht. Und wenn, spielt es kaum eine Rolle, denn dies ist der einzige Zug, der noch fährt."

„Und wohin fahren wir?"

„Nach Leng."

„Und von dort aus weiter?"

„Das, Fenja, ist Ihre Sache. Suchen Sie sich die passende Tür. Oder lassen Sie sich von ihr finden."

Fenjasah dem Schaffner nach. Dann blickte sie wieder aus dem Fenster nach draußen.Überall an den Hängen des Tals war nun Bewegung. Horden flinker Wesen strömtenhinab in das Tal und auf den Bahnhof zu. Fenja blinzelte und lehnte sich imSitz zurück. Der Beschleuniger im Konzentrator würde jetzt in diesem Moment dieÖffnung stabilisieren, durch die sie selbst gekommen war. Und die Horden anOssfhang, die nun den Bahnhof erreichten, würden nicht mehr an der Grenze derRealitäten halt machen. Amsterdam stand ihnen offen.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt