68 | JYLLAND

1 0 0
                                    

Das Land nördlich von Hamburg war zerstörtes Land. Unzählige Fluten waren in den letzten Jahrzehnten darüber hinweg gezogen. Stürme hatten die Landstriche verwüstet, die von Fluten verschont geblieben waren. Einige Jahre war die kimbrische Halbinsel auf Höhe der Eider sogar komplett vom kontinentalen Festland abgetrennt. Jütland und Schleswig waren somit eine eigene Insel. Was jedoch seit seinem Bau vor siebzig Jahren Bestand hatte, war der große Wall. Nachdem zu Beginn der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts die großen Fluten langsam zurückgingen, beschloss das Ministerium für Siedlung und Landgewinnung in Hamburg das ehemalige dänische Staatsgebiet wieder für die Menschen zu erschließen und begann mit dem Bau eines gigantischen Projekts – einem breiten Wall von etwa dreißig Metern Höhe und fünfzig Metern Breite, der sich vom Norden Hamburgs bis nach Skagen an der Nordspitze Jütlands erstrecken sollte, immer in der Nähe der Westküste, um die östlichen Gebiete Jütlands im Falle neuer Fluten von der Nordsee aus zu schützen. Das Bauvorhaben endete auf Höhe des ehemaligen Nissumfjords, der mittlerweile eine weitläufige Bucht war. Um 2065 setzten erneut schwere Fluten ein, die alle weiteren Siedlungspläne im Norden Jütlands zunichtemachten. Doch der Wall hatte Bestand, und mit ihm der doppelte Schienenstrang, der auf seiner Spitze verlief. In Abständen von etwa hundert Kilometern waren Forschungsstationen oben auf dem Wall errichtet worden.

Der Schienentruck hatte die letzte noch genutzte Station vor Stunden passiert und hielt nun vor den Toren eines verwaisten Lagers. Solvejg saß auf dem Beifahrersitz des Trucks und sah durch die Frontscheibe zu den drei Gestalten auf dem Damm. Ninive, Sequana und Isaak hatten den Truck verlassen um in der Station nach der Torsteuerung zu suchen, damit sie weiterfahren konnten. Solvejg störte es nicht, dass diese Verzögerung der Reise eintrat. Hier oben auf dem Damm war der Seewind stark und beständig und tanzte um den Truck und durch die Fahrerkabine. Sie hatten die Einstiegsluke nicht richtig verschlossen, als sie ausgestiegen waren, und so fing sich eine Böe nach der anderen im Truck. Solvejg konnte linkerhand das weite Meer überblicken, dass sich hinter einem breiten Dünenkamm bis zum Horizont erstreckte.

Es war bereits später Nachmittag und die Sonne stand nicht mehr weit über der fernen Wasserlinie. Solvejg sah Sequana etwas abseits des Schienenstrangs am Schloss einer schmalen Tür werkeln, während Ninive und Isaak eine in die Außenmauer der Forschungsstation eingelassene Leiter erklommen. Solvejg fragte sich, warum die beiden das Leben so kompliziert sahen. Sie hatte sie beobachtet, seitdem sie ihnen zwischen den Containern begegnet waren. Es war keine Frage, dass Ninive und Isaak am Ende ihres Weges das Paar sein würden, das jeder erwartete. Sie verstand nur nicht, warum sie sich dabei so umständlich anstellten. Solvejg fühlte sich zu beiden hingezogen. Nicht auf die Art, wie es bei Eva der Fall war. Bei Eva war es anfangs Neugier gewesen, dann der Versuch zu verstehen, warum Entblößung – körperlich und seelisch – für sie eine solche Hemmschwelle darstellten, und spätestens seit der Nacht im Club war es Liebe. Solvejg war sich sicher, dass es Liebe zwischen ihnen war. Alles, was sie über menschliches Verhalten gelernt hatte, deutete darauf hin. Doch bei Ninive und Isaak war es anders. Auch bei Sequana hatte sie dieses Gefühl der Verbundenheit. Sie vermutete, dass es mit den Genen zu tun hatte. Es wäre zumindest ein logischer Grund.

Eine Stunde später waren sie wieder unterwegs entlang des endlos scheinenden Walls nach Norden. Solvejg saß im Schneidersitz im hinteren Bereich des Schienentrucks und betrachtete die beiden Schlafenden. Neben ihr saß Eva und spähte aus der kleinen Luke im Heck des Trucks. Sequana und Gallea hatten die Führung des Trucks übernommen. Das Rattern der Räder auf dem Schienenstrang war die perfekte Begleitmelodie zur eintönig werdenden Fahrt. So aufregend und erhaben es auch gewesen war, die Größe des Walls, die wilde Weite der Landschaft und den aufgewühlten Spiegel der See zu sehen, den Wind zu schmecken und die Kühle des Nordens zu fühlen, die Müdigkeit war ihnen in die Knochen gekrochen.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt