09 | CAMARET

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Es gab Leben außerhalb der großen Städte. Nicht alle Menschen hatten sich während der großen Landflucht in die Metropolen zurückgezogen, einige waren in ihren kleineren Heimatstädten geblieben, aller Gefahren zum Trotz. Camaret-sur-Mer war dank des nahen Stützpunkts, der noch immer von den Pariser Militärs genutzt wurde, von der Entwicklung der Großstadt nicht unbeeinflusst geblieben. Das galt zumindest bis vor drei Jahren, als Camaret-sur-Mer Opfer einer Springflut wurde. Weite Teile der Stadt wurden zerstört und der Kontakt zwischen dem Ort und dem Aéroport Camaret auf der anderen Seite der Bucht brach ab.

Am Rande von Camaret-sur-Mer stand ein Haus, das noch bewohnt war. Es thronte am Rande der Steilküste über dem Meer, alt und windschief. Wie alle anderen Häuser in der Umgebung auch, war es von einem verwilderten Garten umgeben, und ein verwitterter Holzzaun trennte diesen von einer schmalen Straße, die Stück für Stück von der Natur zurückerobert wurde. Ein Licht brannte hinter einem der Fenster im Erdgeschoss.

Ein Stockwerk darüber erwachte Ninive in einem kleinen Dachzimmer. Der Rest eines verblassenden Schmerzes pochte dumpf hinter ihren Schläfen, und ihr Körper fühlte sich an wie gerädert. Sie lag in einem Bett, das bei jeder Bewegung ächzte. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich an den Kampf mit Lilian im Zug erinnerte. Instinktiv zog sie die Beine an und stellte erleichtert fest, dass sie nicht erneut an ein Bett gefesselt war. Ein schwacher Mondschein fiel durch ein schmales Fenster mit blinden Scheiben in den Raum. Das Licht reichte aus, um an der gegenüberliegenden Wand des Raumes, der bis auf das Bett und einen klapprigen Stuhl leer war, die Umrisse einer Tür zu erkennen.

Ninive stand vorsichtig aus dem Bett auf. Unter ihren Füßen spürte sie einen unebenen, kühlen Holzboden, der laut ächzte, als sie sich der Zimmertür näherte. Sie hielt inne und sah sich um. Sie war noch immer barfuß, konnte jedoch in der Nähe des Bettes  oder der Tür keine Schuhe oder Stiefel finden. Sie atmete angespannt und nahm die letzten Schritte bis zur Tür. Erneut ächzte der Boden laut. Ninive fragte sich, wo sie war und warum. War noch jemand in ihrer Nähe?

Trotz des verräterischen Holzbodens öffnete sie die Tür so leise wie möglich. Ein Quietschen der Scharniere erklang, doch wenn ihre Schritte ungehört geblieben waren, sollte das Geräusch der Tür nicht weiter verhängnisvoll gewesen sein. Vor ihr erstreckte sich ein kurzer Flur, der nach wenigen Metern an einer Treppe endete, die nach unten führte. Von dort drang Licht durch das Treppengeländer nach oben und warf schmale, lange Schatten an die Wände. Ninive ging zur Treppe. Ihre Füße spürten einen dicken, fransigen Teppich, der das Knarren der Bodendielen dämpfte. Die geblümte Tapete hatte gelbliche Ränder von Wasserflecken und blätterte an vielen Stellen ab oder war wellig geworden. Auch spürte sie immer wieder Stellen, an der der Teppich morsch geworden war.

Sie stieg die Treppe hinab in einen kleinen Eingangsflur. In einem Kerzenhalter auf einer mitgenommen aussehenden Anrichte brannten zwei Kerzen und sorgten für ein schwaches Licht, das aber auch über den maroden Zustand des Hauses nicht hinwegtäuschen konnte. Ninive warf einen Blick zur Haustür, die für sie den Weg ins Freie bedeutete. Allerdings wusste sie nicht, wo sie war, warum sie hier war und was sie dort draußen erwartete. Außerdem war es Nacht. Sie brauchte zuerst Antworten.

Durch einen Spalt unter einer verzogenen Holztür fiel ein hellerer Lichtschein. Das unstete Flackern wies darauf hin, dass auch in dem dahinterliegenden Zimmer Kerzen oder ein Feuer brannten. Hier unten im Erdgeschoss war kein Holzboden, und so schlich sie sich vorsichtig an die Tür. Langsam und vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und schob die Tür einen Spalt auf. Ein leises Quietschen ertönte von den Scharnieren und Ninive fluchte innerlich.

„Komm rein, Ninive“, hörte sie Lilians Stimme aus dem Zimmer.

Ninive stieß die Tür auf und sah sich blitzschnell um. Vor ihr lag ein Raum, der wohl mal ein Wohnzimmer gewesen sein musste. Polstermöbel waren um einen offenen Kamin zusammengeschoben worden, in dem ein Feuer brannte und den Raum erhellte. Im hinteren Teil des Zimmers waren einige Regale als notdürftiger Raumteiler aufgestellt worden. Große Fenster und eine Tür, die vermutlich hinaus zu einem Garten führte, waren großflächig mit Spanholzplatten vernagelt. Auf den Polstermöbeln erkannte sie noch die Umrisse von drei Personen, dann blendete sie der Schein des Feuers so sehr, dass sie blinzeln musste.

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