58 | AMSTERDAM

0 0 0
                                    

„Guten Morgen!", kam es ihr entgegen, als Sequana durch die kleine Luke aus dem hinteren Teil des Schienentrucks in die Fahrerkabine stieg. Das helle Licht eines kalten, verregneten Morgens blendete sie. Gallea saß am Steuer des Trucks und hob eine Hand zum Gruß, während Adrian sie von der anderen Seite der Kabine mit einem freundlichen Lächeln ansah. „Gut geschlafen?"

„Ich habe ...", Sequana unterbrach sich. Der Traum der letzten Nacht war mehr als ein Traum, oder? Sie hatte sich in den Minuten nach dem Aufwachen, in denen sie reglos im Dunkeln lag und auf das Rattern der Räder auf den Schienen gehört hatte, diese Frage gestellt und entschieden, dass sie tatsächlich ein Gespräch mit Ninive geführt hatte. Doch wie sollte sie jemand anderen davon überzeugen? Sie beschloss, es vorerst für sich zu behalten. „Ich hatte einen komischen Traum, aber ja, ich bin ausgeruht und bereit, das Steuer zu übernehmen."

„Langsam, langsam", entgegnete Gallea. „Dafür gibt es keinen Grund."

Er deutete aus dem Fenster des Trucks. Weite, überschwemmte Wiesen mit trockenen Gräsern erstreckten sich um sie herum, durchbrochen nur hin und wieder von sandigen Hügeln, auf denen selten knorrige, gedrungene Büsche und Bäume standen. Hier und da waren schnurgerade Gräben zu sehen, die vor Ewigkeiten wohl von Menschen gegraben worden waren. Die Weite überwältigte sie. In jeder Richtung, in die sie blicken konnte, reichte das ebene Land bis zum Horizont. Im Westen ging es an einem undefinierten Punkt im Grau des Regens ins Meer über. Überwältigt von der Weite konnte sie ihren Blick kaum lösen.

„Wo sind wir?", fragte sie langsam.

„Das sind die Niederlande", antwortete Adrian. „Zumindest waren sie das einmal. Es soll irgendwo im Osten noch einzelne Dörfer auf einigen Anhöhen geben, aber ein großer Teil des ehemaligen Landes liegt auf Meereshöhe oder sogar darunter. Die Fluten haben nicht viel zurückgelassen."

„Nicht viel?", Sequana sah Adrian an. „Ist es nicht ein unfassbarer Anblick? Jede Linie, jede Wasserspiegelung reicht von Horizont zu Horizont! Hast du jemals so weit blicken können? So viel Ferne gesehen? Es ist als würden meine Augen erst jetzt beginnen zu sehen."

Sie verstummte und dachte daran, dass Ninive dank des Sangres in der Lage war, in weite Ferne zu blicken. Es wunderte sie nun nicht mehr, dass diese so einfach scheinende Manipulation ihrer Sinne so viel Energie verbrauchte. Sie bemerkte, dass Adrian und Gallea sie erstaunt ansahen.

„Was?"

„Äh, naja ... ich hatte dich bislang nicht für so ... poetisch gehalten", entgegnete Adrian. Sequana dachte an das, was sie gerade gesagt hatte und nickte. „Ja, keine Ahnung, was da passiert ist", murmelte sie. „Es war ein sonderbarer Traum, der hat mich durcheinander gebracht ..."

Der Bahndamm ragte mittlerweile mehrere Meter hoch aus dem Land, und dennoch gab es Passagen entlang der Strecke, an denen das Meer so nah war, dass große Wellen an seinen Hängen ausliefen. Hier und da waren die Schienen unterspült, und so konnten sie nicht mehr mit voller Geschwindigkeit weiterfahren, wenn sie nicht entgleisen wollten. Schließlich zog sich der Damm in einem langgestreckten Bogen westwärts und am Horizont tauchte eine höhere Ebene auf, an deren Hang sie die Ruinen von Amsterdam erkennen konnten.

„Ich weiß nicht, ob ich darauf hoffen soll, dass van Ijssel noch in Amsterdam ist oder nicht", durchbrach Gallea schließlich das Schweigen.

„Er ist das einzige lose Ende, das wir noch haben. Wenn Amsterdam verlassen ist, dann stehen wir mit leeren Händen mitten im Nichts", gab Adrian zu Bedenken.

„Es gibt eine Schienenstrecke von Amsterdam nach Hamburg", mischte sich Sequana ein. „Das wäre noch ein Weg, den wir nehmen könnten."

„Wenn die Strecke denn noch existiert", Adrian deutete auf die Wellen unterhalb des Bahndamms. „Wir haben schon Glück, dass wir von Paris bis hierher gekommen sind. Die Strecke zwischen Amsterdam und Hamburg verläuft immer im Einzugsgebiet der Fluten."

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt