Mithilfe von Sequanas Fähigkeiten elektronische Schlösser zu manipulieren fanden sie Zugang zum Ostflügel. Sie hatten Wartungsschächte und die außen an den Mauern angebrachten Rettungsgänge genommen und waren so weiteren Begegnungen mit den Visaren bislang aus dem Weg gegangen. Sequana hatte sich anfangs in Sashas Gegenwart sicher gefühlt. Sie war mit einer Übermacht an Visaren in der Cafeteria offensichtlich spielend fertig geworden. Welchen Grund sollten sie haben, sich um ein paar weitere dieser Wesen Gedanken zu machen? Doch je weiter sie sich in den Ostteil bewegten, desto öfter fiel Sequana auf, wie viel Kraft Sasha die Abwehr der Visaren gekostet haben musste. Sie bezweifelte, dass sie eine ähnliche Situation an diesem Tag noch einmal bestehen würde.
So gefährlich es auch war, Sequana war nicht unglücklich darüber, weiter in die Station vorzudringen. Das plötzliche und völlig unverhoffte Auftauchen Sashas wäre ein unbefriedigendes Ende ihrer Reise gewesen. Sie war durch die Blitze der sterbenden Visaren zu Boden geschleudert worden und hatte das Bewusstsein verloren. Nachdem sie vor Bomben, Sec-Teams und van Ijssel mit Müh und Not aber aus eigener Kraft geflohen war, hatte Sasha sie gerettet anstatt andersrum. Doch Sequana wollte ihre Suche nicht bewusstlos und als Statist beenden, und deshalb hatte sie den anderen auch nichts von den starken, stechenden Schmerzen hinter ihren Rippen gesagt, dass ihr von Zeit zu Zeit den Atem nahm.
„Es ist nicht mehr weit", hörte sie Sasha zu Isaak sagen, die ein Stück vor ihr durch einen schmalen Wartungsschacht nach unten in den Keller der Station kletterten. Sie klammerte sich an den metallenen, in die Wand eingelassenen Sprossen fest und atmete vorsichtig ein und aus.
„Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte Ninive über ihr besorgt.
„Alles in Ordnung. Meine Brust schmerzt ein wenig, seitdem ich vorhin unsanft auf dem Boden gelandet bin", Sequana wusste, dass sie nun nicht mehr alleine zurückgeschickt wurde. „Aber wir sind gleich da, sagt Sasha."
Der Wartungsschacht endete in einer kleinen Kammer, in dem Reinigungsutensilien und eine kleine Werkbank standen. Der Raum wirkte so, als wäre er erst gestern noch in Benutzung gewesen. Ein eigenartiger Ort, dachte Sequana, so normal und gewöhnlich, dafür dass er direkt neben einem großen Loch in der Realität – anders konnte sie die Korridore nicht bezeichnen – lag, in einer Forschungsstation, die vielleicht die ungewöhnlichste Geschichte aller wissenschaftlichen Einrichtungen hatte.
„Hier liegt einer!", Isaak winkte die anderen heran.
„Warum ist der nackt?", fragte Sasha verwirrt.
Während Ninive stehen blieb und den Kopf schüttelte, vergaß Sequana ihren Schmerz und kam näher. Halb unter einem der Regale lag ein bleicher, männlicher Visar. Sein schmaler, jetzt gar nicht mehr menschlich aussehender Körper war nackt und blutig. Die Haut war fast am ganzen Körper zerkratzt, als hätte er mit einem ausgewachsenen Tiger gekämpft, und auch einige Stücke Fleisch waren aus seinem Oberkörper und Beinen gerissen. Doch am bemerkenswertesten war sein Gesicht – wenn man es noch so nennen wollte. Eine breite Glasröhre war geborsten und geschwärzt in der Mitte seines ehemals silbernen Augenfelds. Ein dünner, gedrehter Metallfaden war dahinter zu sehen, wie bei einer alten, länglichen Glühbirne. Doch auch der Rest des Kopfes war deformiert und sah aus, als wäre er von innen heraus verbrannt.
„Wie lebendige Blitzwürfel", murmelte Isaak.
„Was für Dinger?", fragte Sequana. Die manchmal eigenartigen Wörter, die Isaak offensichtlich aus seinem Leben vor dem Kälteschlaf mitgebracht hatte, amüsierten sie.
„Blitzwürfel. Die hat man auf alte Fotokameras geschraubt, wenn die Umgebung zu dunkel war. Und die sind auch nach einem Blitz durchgebrannt."
„Hört sich nicht sehr praktisch an."
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Solheim 01 | EUROPA
Ciencia FicciónWenn du vor der Wahl stehst die Zukunft der Menschheit oder deine eigene Vergangenheit zu retten, wie würdest du dich entscheiden? Vor diesem Konflikt steht Ninive Solheim, als sie im Jahr 2113 zu einer Reise aufbricht, die schon bald alles andere...