11 | AÉROPORT

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Der steinige Weg, der von dem kleinen Kiesstreifen über die Klippen hoch zum Aéroport führte, war steil und gefährlich. Immer wieder musste die kleine Gruppe Felsvorsprünge umgehen und über abgerutschte Stellen klettern. Die Zeit hatte es nicht gut gemeint mit dem einstmals befestigten Weg. Vom Personal des Aéroport war dieser Weg offenbar schon lange nicht mehr benutzt worden. Es gab ungefährlichere und bequemere Wege vom Städtchen Camaret-sur-Mer zum Aéroport. Seamus hatte aber darauf bestanden, dass sie nicht die Straße nehmen würden, die die Bucht umspannte, sondern stattdessen mit einem Boot übersetzten und die Steilküste erklommen.

Ninives Skepsis war im Lichte des frühen Morgens nach und nach Neugier gewichen. Sie hatte über Nacht erstaunlich ruhig geschlafen, hier draußen wo sie nur das Rauschen von Meer und Wind umgab. Lilian hatte ihr Vertrauen zumindest insoweit zurückgewinnen können, als dass Ninive keine Zweifel mehr daran hatte, dass sie in ihrer Gesellschaft sicher war, sofern Lilian nicht wieder auf die Idee kam, sie vor etwas retten zu müssen.

Als sie am Morgen erwachte, das kühle Sonnenlicht durch die Löcher im Vorhang in den Raum fallen sah, die frische, salzige Brise spürte und schmeckte, die vom Meer hinaufgetragen wurde, ordnete sie ihre Gedanken. Durch ihre Ausbildung, ihre Erziehung im Institut und ihre biologischen Anlagen neigte Ninive dazu, unvorhergesehene Wendungen und Ereignisse möglichst zu umgehen. Sie hatte sich Jahre auf diese Mission vorbereitet, hatte alle Aspekte durchdacht und schließlich einen rationalen Entschluss gefasst. Doch jetzt waren alle Planungen innerhalb weniger Stunden zunichte gemacht. Ihr System war aus dem Takt gebracht worden. Und dennoch, an diesem Morgen spürte sie einen inneren Aufbruch, Neugier und Euphorie. Vermutlich waren das nur die Auswirkungen der fehlenden Neurohemmer, doch Ninive wusste, dass sie dieses Gefühl zu ihrem Vorteil nutzen musste.

Es folgten nur noch einige Wegbiegungen bis sie schließlich das obere Ende der Steilküste erreicht hatten. Nur wenige Meter von der Kante entfernt, unter der tief unten das Meer in die Bucht rauschte, standen die ersten niedrigen Büsche und gedrungenen Bäume, knorrig und windgebeugt. Das Unterholz wurde dichter und bald war nichts mehr zu erkennen, das Hinweise auf einen Pfad gegeben hätte. Sie schlugen sich durchs widerspenstige Unterholz, bis Martin schließlich inne hielt.

„Da vorne ist der Zaun!“, rief er und deutete zwischen den Bäumen hindurch. Ninive spähte in die gezeigte Richtung und erkannte das dünne Geflecht eines hohen Maschendrahtzauns.

„Kommen wir da durch?“, erkundigte sie sich bei Seamus, der nur eine Armlänge rechts von ihr stand.

„Es gibt Schwachstellen im Sicherheitssystem. Die Umzäunung des Aéroports ist in den vergangenen Jahrzehnten nur noch als Hindernis für Wildtiere verwendet worden und dementsprechend schlecht gepflegt.“ Seamus klopfte einige Blätter von seiner Schulter. „Das wird sicher unser kleinstes Problem sein.“

„Gut, und was ist das große Problem?“

Anstatt einer Antwort zuckte der schmale Mann nur die Schultern und setzte seinen Weg in Richtung Zaun fort.

Das Unterholz war ungewohnt für Ninive. Sie hatte – wie so viele Menschen – die Stadt ihr Leben lang nicht verlassen, und auch wenn die Simulation von unwegsamem Gelände Teil ihrer Expeditionsvorbereitung gewesen war, hielt sie sich dicht hinter ihren Begleitern, die mit offensichtlicher Routine den Weg durch Gestrüpp und trockene Dornensträucher bahnten.

Einige Meter vor dem Sicherheitszaun lichtete sich der Wald, doch Sträucher und hohe Gräser hatten im Laufe der Zeit den einstmals gerodeten Streifen davor zurückerobert. Auch einige kleinere Bäume standen dort nun wieder. Einer davon war direkt unter dem Maschendrahtgeflecht in die Höhe gewachsen und hatte dabei den Zaun mit der Zeit eingerissen, sodass eine Lücke entstanden war, durch die sie Zugang zum Gelände fanden. Ninive fragte sich, wie Paris heute aussehen würde, hätten die Menschen diese Stadt wie so viele andere Städte vor Jahrzehnten verlassen. Als sie am Morgen Camaret-sur-Mer auf dem Weg zum Boot durchquert hatten, hatte sie einen kleinen Eindruck bekommen, doch Martin hatte ihr erzählt, dass der Ort bis vor wenigen Jahren noch bewohnt gewesen war. Wie mussten die einstmals großen Städte aussehen, die bereits vor fünfzig oder sechzig Jahren zu Geisterstädten geworden waren?

Ein Streifen aus hohem Gras lag zwischen dem Zaun und einer weiten, asphaltierten Fläche, an deren Rand sich einige kleine Lagerhäuser und flache Baracken aneinanderreihten, hinter denen wiederum die Rückwand eines großen Hangars aufragte. Lilian spähte in alle Richtungen und lief dann ins hohe Gras geduckt zum ersten der Gebäude hinüber. Ninive ihrerseits wandte den Blick zur freien Asphaltfläche, an deren fernem Ende weitere Gebäude und der alte Tower der Anlage schemenhaft aufragten. Irgendetwas ging dort vor sich. Die Entfernung war viel zu groß, um Details erkennen zu können, doch am Rande von Ninives Wahrnehmung flackerte eine Ahnung, die sie nicht ignorieren konnte. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Seamus und Martin Lilian in Richtung der Gebäude folgten, doch sie hob nur abwehrend die Hand, nicht sicher, ob diese Geste wahrgenommen oder verstanden worden war.

Ninive konzentrierte ihre Energie auf ihre Augen, während sie fest die fernen Gebäude fokussierte. Das wohlvertraute Rauschen des Bluts in ihren Ohren schwoll an, sie fühlte die Taubheit in ihren Gliedmaßen, doch vor allem schärfte sich ihr Blick und tauchte tief in die Umgebung ein. Ein Tunnel aus Farben und Schatten entstand, als sie vorwärts schnellte und in das Geschehen am Fuße des fernen Hauptgebäudekomplexes eintrat. Es wimmelte dort vor Bewegungen, schnell und ohne erkennbares Muster. Sie spannte ihren Körper an und konzentrierte die Energie noch weiter, bis sie wieder klar sah. Und dann erschrak sie.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer alten, dreckigen Liege, deren Polster morsch und an einigen Stellen aufgerissen war. Mittlerweile ließ die Überraschung an unbekannten Orten aufzuwachen gründlich nach. Stattdessen setzte sie sich auf und schwang ihre Beine über den Rand der Liege, eine Bewegung, die sofort mit einem schmerzenden Schwindelanfall quittiert wurde.

„Was hast du gesehen?“ Die Frage kam von Lilian. Ninive warf einen Blick um sich. Sie befand sich in einem kleinen Raum, der wohl mal eine Art Krankenzimmer gewesen war. Zumindest bevor die Hälfte der Einrichtung zerfallen war. Seamus stand auf der anderen Seite des Raums vor einem geöffneten Metallspind und begutachtete ein altes Gewehr. Er warf ihr einen besorgten Blick zu, ebenso wie Martin, der in der offenen Tür lehnte, hinter der das asphaltierte Rollfeld des Aéroports zu sehen war. Lilian hingegen schien wenig beeindruckt von Ninives Blackout, hatte sie diese Situation doch bereits im Zug erlebt. Sie saß auf der Kante eines einfachen Schreibtischs, wie er für die Standardeinrichtung von Armeegebäuden üblich war. Eine hässliche, immer dreckig aussehende Holzplatte auf einem schlichten Metallgestell. Letzteres war in diesem Fall wohl auch der Grund, warum der Schreibtisch als einziges Möbelstück an diesem Ort noch einen einigermaßen robusten Eindruck machte.

„Mir geht es gut“, entgegnete Ninive, weniger als sarkastischen Hinweis als vielmehr um Zeit zu gewinnen um ihre Gedanken zu ordnen. Lilian schwieg und überging ihre Bemerkung.

„Am Tower wird gekämpft“, fuhr Ninive fort. „Am Hauptgebäude und an einem großen Tor, vermutlich die Haupteinfahrt. Gefechte, Schusswechsel zwischen ... Menschen, aber kein Militär und auch keine Leute vom Institut und ...“

„Das sind die Children of Chou“, entgegnete Martin von seinem Platz an der Tür, „unsere Feinde.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich der Fall ist. Freunde sind die ... Wesen, gegen die sie kämpfen, vermutlich auch nicht unbedingt.“

„Was für Wesen?“, erkundigte sich Lilian und schnitt damit Martin das Wort ab, der ebenfalls zu einer Erwiderung angesetzt hatte.

„Ich weiß nicht, ich habe so etwas noch nie gesehen. Sie sahen aus wie übergroße Menschen mit Insektenaugen und ... langen, sichelartigen Gliedmaßen. Und sie bewegen sich extrem schnell. Vielleicht“, sie rieb sich die Schläfen, „haben mich meine Sinne aber auch betrogen, das kommt hin und wieder vor.“

„Nein, deine Sinne arbeiten bestens“, entgegnete Lilian, „vielleicht abgesehen davon, dass jedes Mal danach dein System neustarten muss. Diese Wesen werden Ossfhang genannt, das sagen zumindest die Schriften der Children of Chou. Und vielleicht reicht das bereits als Beweis dafür, dass unsere Geschichte wahr ist.“

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt