18 | MENSA

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Die weißen Neonröhren flackerten auf und tauchten den großen Saal der Mensa des Instituts für Sangre-Forschung in ein kaltes, helles Licht. Sequana ging durch die Reihen an Tischen, auf denen die von der Putzkolonne hochgestellten Stühle standen, bis in die hintere Ecke der Halle. Mit einer schnellen Geste schlug sie die Kapuze ihrer Jacke zurück und enthüllte die große, lange Wunde an ihrer rechten Schläfe. Achtzehn Stiche hatte der Arzt gebraucht, dem sie teures Geld bezahlen musste, dass er einen Klon ohne zu viele Nachfragen behandelte. Sie hatte schnell die Kontrolle über ihren Körper zurückgewonnen. Richtig bewusstlos war sie nur für wenige Augenblicke gewesen nachdem sie Lumières Taschenlampe schmerzhaft am Kopf getroffen hatte. Doch völlig benommen konnte sie sich nicht wehren, als er sie aus dem Schienentruck beförderte und ohne sie weiter stadtauswärts fuhr.

Doch Sequana hatte das große Glück, nur ein Stück weiter eine motorisierte Draisine zu finden, deren Tank sogar noch so voll war, dass sie Montparnasse erreichte. Von dort aus nahm sie die öffentlichen Bahnen zu einem heruntergekommenen Krankenhaus im sechsten Arrondissement. Als sie dieses verließ, startete sie ihr Comdevice neu, das den Sturz aus dem Schienentruck überlebt hatte. Während sie auf die nächste Bahn nach Batignolles wartete, vereinbarte sie ein nächtliches Treffen in der Mensa.

Ein Klacken erklang und die Haupttür zur Mensa schwang auf. Eine Gestalt trat in das Licht der Neonlampen und blinzelte, um die Augen schneller an die Helligkeit zu gewöhnen.

„Professor“, begrüßte ihn Sequana halblaut aus ihrer Ecke, „hier drüben!“

„Sequana!“ In der Stimme Doignacs schwangen Erleichterung und Besorgnis mit. „Geht es dir gut?“

„Warum plötzlich so besorgt?“ Die Erwiderung klang giftiger, als es Sequanas Absicht gewesen war, doch es war noch nie ihre Stärke gewesen, den richtigen Ton zu treffen, und wer wusste das besser als der Mann, der ihre Neurohemmer eingestellt hatte? Dementsprechend ignorierte er ihre Frage, stattdessen kam er zu ihr herüber, stellte einen Stuhl vom Tisch und setzte sich.

„Also gut, was ist passiert? Du wurdest angegriffen?“ Professor Doignac beugte sich vor und strich ihr mit einer Hand das Haar zurück um die Wunde an der Schläfe zu begutachten. „Himmel, da hat aber jemand zugeschlagen.“

Sequana regte sich nicht. Auch wenn sie noch immer ärgerte, dass der Professor sie in etwas hinein gezogen hatte, ohne dass er ihr die wahren Hintergründe genannt hatte, so war sie die Behandlung durch Doignac seit Jahren so sehr gewohnt, dass sie nicht weiter darüber nachdenken musste.

„Sein Name ist Lumière“, begann Sequana und eilte sich hinzuzufügen: „Ja, das ist ein Deckname. Nein, ich kenne seinen richtigen Namen nicht, und ich weiß auch selber, dass man sich mit solchen Typen nicht einlassen sollte, danke!“

„Langsam, langsam“, der Professor hob abwehrend die Hände. „In diesem Fall bin ich nicht ganz unschuldig an der momentanen Situation, daher werde ich nichts dergleichen sagen. Auch wenn du natürlich weißt, dass ich damit Recht hätte. Erzähl mir bitte, was passiert ist.“

Sequana begann ihm zu schildern, dass sie nach ihrem letzten anonymen Telefonat noch einmal zu Rasmus gefahren war, um doch noch an irgendwelche Informationen zu kommen. Dabei hatte sie eine Nachricht von Ninive gefunden, die nicht wie die anderen in der Inbox lag. Dort erfuhr sie über die Missionsparameter. Doch Rasmus überraschte sie und wollte sie zur Rede stellen. In die Enge gedrängt sah sie nur eine Möglichkeit: Sie musste ihn vorübergehend ausschalten. Und da sie ihn sicherheitshalber nicht dort zurücklassen wollte, nahm sie ihn kurzerhand mit. Lumière, mit dem sie schon früher Geschäftsbeziehungen hatte, war Sequanas erste Wahl als Gehilfe für diese Mission. Und einen Gehilfen brauchte sie, wenn sie Rasmus mitnehmen musste.

„Er konnte sogar den Schienentruck organisieren“, berichtete Sequana, „er war meine beste Chance, mit Rasmus aus Paris rauszukommen.

„Natürlich“, entgegnete Doignac, „ich würde dir deswegen nie einen Vorwurf machen, jedoch frage ich mich, was dieser Lumière vor hat? Er hat einen Auftrag von dir angenommen und ihn dann auf sehr drastische Weise abgelehnt. Er verzichtet auf Bezahlung und riskiert seinen Ruf als zuverlässiger Söldner, warum tut er das?“

„Ich glaube, er hat unser Gespräch mitgehört und kennt nun einige Missionsparameter“, Sequana lehnte sich müde zurück und konnte nur mühsam ein Gähnen unterdrücken.

„Aber das allein ist so vage, dass selbst wir nicht so drastisch reagiert hätten. Dieser Lumière hätte auch nichts tun und sich erst dann einmischen können, wenn ihr in Camaret angekommen wäret. Das hätte vieles einfacher gemacht für ihn“, Doignac warf einen nachdenklichen Blick auf Sequana. „Was es auch war, ich denke, wir werden es durch Spekulationen nicht herausbekommen. Und du solltest dich ausruhen, damit du morgen einsatzbereit bist.“

„Morgen?“, Sequana sah überrascht auf. „Warum das?“

„Habe ich das noch nicht erwähnt? Wir fahren nach Camaret.“ Doignac erhob sich und sah sie erneut nachdenklich an. „Du hast es nicht weit nach Hause ... gehe jetzt schlafen, morgen früh treffen wir uns wieder hier im Institut, in meinem Büro. So gegen neun Uhr. Pack dir das notwendigste Reisegepäck ein, um Proviant und ein Gefährt kümmere ich mich schon.“

Sequana nickte nur knapp und stand auf. Sie sah auf die Uhr an der Wand. Es war halb vier nachts. Sie spürte, dass ihr Körper mehr Schlaf brauchen würde als nur ein paar Stunden, doch die Fahrt nach Camaret würde lang sein, und sie hatten keine Zeit zu verlieren.

„Ach Sequana, wie viel Vorsprung hat Lumière?“, Doignac machte noch keine Anstalten, sich von seinem Platz zu erheben. Vermutlich würde er wohl in seinem Büro im Institut schlafen, wenn überhaupt, dachte Sequana.

„Vor ungefähr vier Stunden ist er aus Palaiseau abgefahren. Da das bereits an der Strecke nach Camaret liegt ... ich würde schätzen, dass er uns schon jetzt sechs Stunden enteilt ist. Selbst wenn wir morgen direkt aufbrechen dürfte er einen guten halben Tag vor uns da sein. Vorausgesetzt, er fährt die Nacht durch.“

„Gut“, entgegnete der Professor ohne es so zu meinen.

Sie wandte sich von ihm ab, nachdem er nicht den Anschein machte, als hätte er weitere Fragen. Als sie fast die Tür der Mensa erreicht hatte, drehte sie sich jedoch nochmals um. Er saß noch immer dort am Tisch und hatte ihr den Rücken zugewandt.

„Professor, ich habe noch eine Frage ... was ist an Ninive Solheim so besonders, dass Sie so viele Hebel in Bewegung setzen um sie aufzuspüren.“

„Es geht doch nicht um sie“, war seine erste Reaktion, bevor er eine so lange Pause einlegte, dass Sequana sich bereits wieder zum Gehen wenden wollte. „Nicht mehr. Ich habe mich vor einiger Zeit schon gefragt, warum ausgerechnet sie für die Mission ausgewählt wurde. Es kam mir sonderbar vor, da ihre Fähigkeiten nicht gerade das sind, was das Militär sucht. Und so kam ich immer mehr dahinter, dass etwas nicht stimmt mit dieser Expedition.“

„Und das ist alles?“ Sequana blickte ihn noch immer an, auch wenn er seine Haltung nicht geändert hatte und die ganze Zeit über mit dem Rücken zu ihr gewandt sprach. „Ich glaube Ihnen, dass es jetzt um die Mission geht, aber Sie haben noch ein anderes Interesse daran, etwas, das mit Ninive zu tun hat. Ich will nicht an Ihren Gründen zweifeln, vielleicht geht es um Top-Secret-Projekte, zu denen ich keinen Zugang habe, ich habe mich nur gefragt, warum Sie das Ganze tun.“ Sie verstummte und wartete auf eine Reaktion Doignacs. „Das ist alles“, ergänzte sie, als der Professor keine Regung zeigte. Sie blieb noch einen Moment stehen, dann öffnete sie die Tür und verschwand wortlos aus der Mensa des Instituts.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt