24 | AUF DERSELBEN SEITE

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Sequana pausierte den Beitrag und starrte wie betäubt zum Schreibtisch, auf dem das kleine Lämpchen des Journals ruhig blinkte. Der Professor hatte sie nicht ausgewählt, weil er ihre Fähigkeiten schätzte – zumindest nicht nur deswegen. Sie steckte in dem allen mit drin. Vage Kindheitserinnerungen an die Villa im Bois de Boulogne drängten sich zwischen ihre Gedanken. Man hatte ihr erfolgreich eingeredet, sie hätte ihr gesamtes Leben im Institut verbracht. Die Erinnerungen an eine zugige, sonnendurchflutete Villa in der sie Dinge gefühlt hatte wie das Glücksgefühl der Sonne auf ihrer Haut und die Geborgenheit unter einer Wolldecke, während draußen vor dem Fenster der Schnee fiel, fand sie in Kinderbüchern wieder, die ihr Doignac auf ihre Fragen hin einmal zeigte, während er erklärte, die müsse diese Erinnerungen aus diesen Büchern abgeleitet haben.

Sequana dachte, dass sie sich verraten fühlen müsste, um einen Teil ihres Lebens gebracht, den sie sich immer wieder versucht hatte vorzustellen. Doch stattdessen spürte sie ein Gefühl von Leichtigkeit in ihrem Körper, etwas das sie zu überwältigen versuchte. All diese Erinnerungen, all diese Gefühle, sie waren real gewesen. Und sie war in der Lage, diese Dinge zu fühlen. Sie lehnte sich mit Arm und Stirn gegen die Fensterscheibe und spürte erneut ein Gefühl von Schwindel. Das Blut schien in ihrem Kopf zu rauschen, etwas nagte an den Nerven hinter ihren Augen und sie schluckte schwer. Fühlte es sich so an, wenn man weinen konnte?

Sie nahm sich etwas Zeit, um sich wieder zu fangen. Bevor sie das Journal fortfahren ließ, setzte sie sich in einen der großen Sessel nahe des Fensters. Das Schwindelgefühl hatte ihr Angst gemacht und sie wollte nicht noch einmal spüren, wie ihre Knie weich wurden, während sie stand.

„Die vier machten in der Sicherheit von Bruchots Projekt mit dem Codenamen ‚Sektion B‘ Fortschritte, während im Keller der Villa im Bois de Boulogne die übrigen Probanden unseres Projekts ein gewaltsames Ende fanden. Es war die schlimmste Stunde meines Lebens, und ich bin bis heute dankbar, dass ich mich um meine vier Schützlinge kümmern musste, um mich zumindest ein wenig davon abzulenken. Bertrand allerdings kämpfte weiter gegen Windmühlen und für unser Projekt, auch als das Blutbad im Bois de Boulogne bereits in vollem Gange war. Über zehn Jahre war er danach in Therapie. Dass noch vier unserer Probanden existieren, kann ich ihm niemals sagen. Auch wenn er mir vor einigen Tagen sagte, dass er sich mit Ninive unterhalten habe und in ihr das sehe, was wir damals versucht haben zu erreichen.

Wenn ich mir den Werdegang der vier betrachte, dann kann ich zumindest sagen, ich habe den Somatonikern ein Stück auf dem Weg zu einem besseren Leben geholfen, auch wenn es der jetzigen Generation nicht viel nutzen wird. Ninive lebt bald seit zwölf Jahren außerhalb des Instituts. Sequana ist ungezügelter und auf ihre Art gefährlicher, doch ich traue ihr zu, dass sie ein vollständiges Leben außerhalb des Instituts meistern wird. Cygne war ein Fehltritt. Ich habe ihn damals nur mitgenommen, weil ich vier Plätze zu vergeben hatte und er so verschlossen war, dass ich nicht befürchten musste, er könne sich oder andere durch einen Gefühlsausbruch gefährden. Dass die Zeit die Dinge ändern kann, habe ich später schmerzhaft erfahren müssen, als er schließlich verschwand.

Und Sasha …“, der Professor räusperte sich. „Über Sasha rede ich nicht. Tut mir leid, mein Yanis. Journal Ende.“

Sequana blieb noch eine ganze Weile im Sessel sitzen. Die Einschätzung Doignacs von ihr und Ninive war ihr bekannt, und Sequana wusste auch, dass er Recht hatte. Sie hatte früh gelernt, dass Ninive in allen Dingen schneller und besser war als sie, außer in den Kampffähigkeiten, die ihre Stärke waren. Sie konnte sich damit abfinden und war nie in einen Konflikt mit dem blonden Vorzeigeklon geraten. Es war auch rational absolut korrekt gewesen, Ninive früher als sie in eine eigene Wohnung außerhalb des Instituts zu lassen. Menschen, mit denen sie gesprochen hatte, fassten sie oft mit Samthandschuhen an, wenn sie auf dieses Thema kamen, als wäre sie ein Verlierer. Doch Sequana verstand diese Denkweise nicht. Sie war der zweite Klon in der Geschichte, der – in Paris – die Obhut des Instituts verlassen durfte. Wer konnte das sonst von sich behaupten?

Bedenklich war aber, dass der Professor noch zwei andere Klone erwähnt hatte, die sie nicht kannte. Cygne war ihr gar kein Begriff, bei dem Namen Sasha jedoch zerrte irgendetwas sachte an ihren Erinnerungen. Doch sie hatte jetzt nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste ihrer einzigen greifbaren Spur folgen. Sie stand aus dem Sessel auf und schaltete zurück in den Zustand, der für Sequana normal war. Mit wenigen Schritten war sie die Treppe hinauf und zur gefesselten Frau geeilt, die unterdessen wieder wach geworden war.

Sequana zog ein Messer aus ihrem Gürtel hervor und setzte es an den Fingern der rechten Hand der Frau an. „Wenn du schreist oder meine Antworten nicht zufriedenstellend beantwortest, gehst du hier mit weniger Gliedmaßen raus als du reingekommen bist, klar?“

Sie wartete nicht auf das bestätigende Nicken der Frau, sondern riss ihr den mit einem Stück Stoff improvisierten Knebel vom Mund.

„Mit wem hast du vorhin telefoniert?“ fragte Sequana.

„Du fragst nicht zuerst, was ich hier zu suchen habe?“, entgegnete die Frau lachend. „Das bedeutet, du bist eingeweiht.“

Sequana presste die Lippen aufeinander, dann lehnte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die Messerklinge, bis sie den Knochen knacken hörte. Die Frau warf ihren Kopf zur Seite und starrte geschockt auf den kleinen Finger, der blutend neben ihrer Hand lag.

„Wage es ja nicht zu schreien!“, zischte Sequana.

„Bist du wahnsinnig!“, fauchte diese zurück, doch als Sequana ihren Körper erneut spannte, fügte sie beschwichtigend hinzu: „Schon okay, okay! Ich beantworte dir deine Fragen.“

Sequana entspannte sich und ließ die andere Frau fortfahren.

„Ich bin nicht von den Sec-Teams, genauso wenig wie du. Verstehst du das? Wir sind auf derselben Seite! Mich schickt ein Freund von Professor Doignac. Er heißt Bertrand Gallea, er ist Professor am Institut für Sangre-Forschung.“

„Wo finde ich Professor Gallea jetzt?“ Sequana ignorierte die Schmerzenslaute, die die Frau nun, da der erste Schock vorbei war, zwischen ihren Sätzen ausstieß.

„In seinem Unterschlupf“, entgegnete die Frau.

„Das ist wo?“

„Etwas südlich des Lac Inférieur im Bois de Boulogne steht eine alte Villa. Es ist die einzige weit und breit, du wirst sie nicht verfehlen können. Ich hatte den Auftrag, dich zu ihm zu bringen …“

Sequana nickte und stand auf. Erneut überkam sie ein eigenartiges Gefühl. War es einfach ein großer Zufall, dass sich Gallea dort befand, oder war er zur Villa seines gemeinsamen Experiments mit Doignac zurückgekehrt? Sie drehte sich um und ging zur Treppe.

„Warte!“, rief ihr die gefesselte Frau hinterher. „Du kannst mich doch hier nicht liegen lassen.“

„Es kann nicht mehr lange dauern, dann sind die Sec-Teams hier, die werden sich um dich kümmern“, entgegnete Sequana kühl und sprang die Treppe wieder herunter. Ungeachtet der Hilfeschreie der Frau aus der oberen Ebene schnappte sich Sequana ihren Rucksack und ihre Stiefel und verschwand aus der Vordertür des Appartements.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt