28 | EVA

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Der Regen hatte weiter zugenommen, doch immerhin hatte sie den Nebel unten am Bootsanleger zurücklassen können. In einem kleinen Laden nahe des Elbufers hatte sie sich einige notwendige Dinge besorgt, dann hatte sie dem Fluss den Rücken gekehrt und war durch einen weiten, kahlen Park hinüber zu ihrem Wohnblock gegangen. Eva hatte sich auf dem letzten Stück nicht beeilt. Sie mochte den Moment im Park bei diesem Wetter. Nach einem harten Arbeitstag freute sie sich auf nichts so sehr wie auf die Gemütlichkeit ihrer eigenen Wohnung, einen Tee gegen die Kälte und Zeit um zu lesen, zu kochen oder fernzusehen. Dabei wusste sie selbst am besten, dass sie selbst an guten Tag kaum über das Essen hinaus kam, bis sie sich wieder der Arbeit widmete.

Es lag an der Einsamkeit. Hier draußen war sie erwünscht, ein ruhiger Moment, in dem sie ganz für sich war, nachdem sie dem Krankenhaus, dem Fährboot und dem Geschäft entronnen war. Ein Ort für düstere Gedanken, ein Moment, der ein Ende hatte, wenn sie aus dem Regenrauschen in das warme und trockene aber unpersönliche Foyer ihrer Wohnanlage trat und in den Fahrstuhl stieg, der sie in ihre eigenen vier Wände brachte.

Doch wenn sie in ihrer Wohnung ankam, dann musste dieser Moment vorbei sein. Sie wollte ein warmes Licht, eine freundliche Wohnung, die sie empfing, und etwas, auf das sie sich freuen konnte. Doch mittlerweile versuchte sie kaum noch, die Illusion aufzubauen, dass es so war. Niemand erwartete sie in der Wohnung. Der Portier unten im Foyer war zwar so fürsorglich, das Licht auf ihr Lieblingssetting und dezente Musik in ihrer Wohnung zu schalten, doch auch an diesem Abend war es so, wie an jedem Abend in der letzten Zeit, an dem sie nicht erst in der Nacht nach Hause kam. Sie spürte die Einsamkeit bevor sie ihre Wohnungstür erreichte.

Als sie aus dem Fahrtstuhl gestiegen war, ging sie langsamer als sonst den Gang hinunter zu ihrer Wohnung in der Hoffnung, einer der Nachbarn würde ihr zufällig auf dem Gang begegnen und in ein belangloses Gespräch verwickeln. Doch niemand tat ihr den Gefallen. Sie hielt an einem Abschnitt des Gangs an, der direkt hinter der verglasten Front des Hauses lag. Durch den Regenschleier sah sie hinab zu dem kleinen Park, durch den sie kurz zuvor gelaufen war. Sie hatte dort unten wieder den Fehler gemacht, Hoffnung zu schöpfen. Sie hatte versucht, alle düsteren Gedanken unterwegs zu denken, hatte sich sogar auf den letzten Metern vorgestellt, jemand würde sie im Haus ansprechen. Und noch als sie den Portier grüßte und den Fahrstuhl betrat, hatte sie sich das Gefühl eingeredet, der Abend könne weniger trist werden als sonst.

Heftig schüttelte sie den Kopf und aus ihren Haaren schleuderten Tropfen gegen die Scheibe. Ärger keimte für einen Moment in ihr auf, doch selbst der verpuffte auf den wenigen letzten Schritten zu ihrer Wohnungstür. Sie fühlte sich taub und isoliert. Ihre Welt war wie in Watte gepackt. Sie zog ihre ID-Card über den Scanner an der Tür und drückte diese nach Erklingen des leisen Summtons auf. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, blieb sie in dem kleinen Eingangsflur der Wohnung stehen. Sekundenlang bewegte sie sich nicht, spürte nur die Regennässe an ihr hinunter rinnen und zu Boden tropfen.

Warum war ihr Leben so, wie es war? Sie war erfolgreich in ihrem Job, galt unter den Kollegen als zielstrebig und selbstbewusst. Jemand wie sie musste doch nur raus gehen und Menschen ansprechen, wenn sie Gesellschaft wollte. Doch genau das war ihr Problem. In ihrem Beruf war sie so etwas wie ein Wunderkind. Ihre Kollegen mussten sich mit ihr beschäftigen, es stand gar nicht zur Debatte, ob sie jemand ansprach oder nicht. Damit konnte sie umgehen. Und so lange es die Arbeit betraf, war sie auch gut in der Führung von Menschen und im diplomatischen Umgang mit ihnen.

Eva begann damit, ihren Mantel aufzuknöpfen. Sie hatte es eine Zeitlang mit Dating-Angeboten versucht, ebenso hatte sie sich durchgerungen, einige Male ins Sportzentrum zu gehen, das die PharmaTerra GmbH – ihr Arbeitgeber – in ihrer Nähe betrieb. Doch geholfen hatte das alles nichts.

Sie schälte sich aus ihren nassen Kleidern und gab der Wohnungsanlage den Sprachbefehl zur visuellen Abschirmung. Die großen Fensterscheiben, die vom Boden bis zur Decke der Wohnung auf der Frontseite reichten, wurden milchig. Eva ging auf Zehenspitzen hinüber ins Bad und drehte das Wasser der Badewanne auf. Vielleicht war der Abend leichter zu ertragen, wenn sie sich aufgewärmt hatte. Sie kehrte noch einmal in den Flur zurück und sammelte ihre nasse Kleidung ein. Als sie aufsah, fühlte sie sich noch isolierte als zuvor. Die abgeblendeten Scheiben wirkten wie ein Gefängnis auf sie.

Sie zögerte einen Moment lang, dann dimmte sie das Licht auf ein schwaches, warmes Glimmen des Ambientlights und ließ die Fensterscheiben wieder aufklaren. Sie hielt ihre durchnässte Kleidung so vor ihren Körper, dass dieser weitgehend bedeckt war, als sie erneut in das Bad ging. Natürlich wusste sie, dass selbst im Falle, dass aus den Blocks auf der anderen Parkseite zufällig jemand mit einem Fernglas genau in ihre Wohnung blickte, dieser jemand aufgrund der Beleuchtung nichts von ihr hätte erkennen können, und sie kam sich albern vor. Doch sie war schon peinlich berührt, wenn sie ihren eigenen Körper länger als notwendig im Spiegel betrachtete. In dieser Hinsicht war sie unsicher. Der schlimmste Traum, an den sie sich erinnern konnte, endete damit, dass sie aus der Dusche stieg und vor der Scheibe ihrer Wohnung, die genau in diesem Moment eine Fehlfunktion hatte und klar wurde, ein Notfallhelikopter schwebte, der ... irgendeinen Notfall hatte. Eva musste bei dem Gedanken daran über sich selber lachen, und dennoch war es für sie ein unangenehmes Gefühl, sich eine solche Situation vorzustellen, so absurd sie auch sein mochte.

Sie lehnte sich im heißen Wasser der Wanne zurück. Sie hatte auf den Badeschaum verzichtet, das Wasser war fast schwarz in der kaum beleuchteten Wohnung. Sie streckte die Arme über dem Kopf aus und spürte die Knoten in ihren Schultern. Eine Kollegin, mit der sie eines ihrer seltenen freundschaftlicheren Gespräche geführt hatte, hatte ihr eine Massage empfohlen. Ganz nebenbei hatte sie erwähnt, dass sie bei einer ihrer Massagen ihren Freund kennengelernt hatte und nun ihren eigenen Masseur besaß. Eva wusste nicht, was schlimmer war. Die Vorstellung, dass fremde Hände ihre Haut berührten, oder aber der Gedanke, dass sie am Ende auch in das zweifelhafte Vergnügen kam, jemanden zu besitzen.

Als sie die Arme wieder sinken ließ, stieß sie mit dem Ellenbogen gegen etwas, das auf dem Wannenrand stand. Sie drehte sich um und sah ein kleines Fernglas, das sie sich vor Jahren gekauft hatte um Ausschau nach den wenigen Schiffen zu halten, die an guten Tagen aus Richtung der Elbmündung zurück kamen. Dass sie es hier auf dem Wannenrand gelassen hatte, erschien ihr sonderbar aber nicht abwegig. Sie tendierte dazu, Gegenstände, die sie nicht oft brauchte, als Zierobjekte zu sehen und irgendwo hinzustellen, wo gerade Platz war.

Jetzt nahm sie das Fernglas zur Hand und sah hindurch. Durch die klaren Scheiben konnte sie hinaus in den Abend blicken. Eigentlich hatte sie vor, zwischen den gegenüberliegenden Wohnblocks hindurch auf die Elbe zu gucken, doch ihr Blick blieb an den erleuchteten Fenstern auf der anderen Parkseite hängen. Sie sah in Wohnungen, die sie an ihre erinnerten. Viele Menschen wohnten dort offensichtlich alleine. Einige waren dabei, sich essen zu machen, andere waren mit Aufräumen beschäftigt, saßen vor dem Comscreen und sprachen mit irgendwelchen Anrufern oder hatten Besuch, mit dem sie zusammensaßen.

Der Anblick gab Eva ein nicht erwartetes Gefühl der Sicherheit. Sie war nicht alleine in ihrer Situation. Vielen anderen Menschen um sie herum ging es ähnlich wie ihr. Sie lebten ihr Leben, sie waren stark genug, es auch alleine durchzuziehen, selbst wenn das Schicksal ihnen keine Familie oder einen Partner zugestand. Eva blieb an einer Wohnung hängen, in der ein junger Mann nackt vor seinem Herd stand und Pfannkuchen machte. Sie spürte, dass sie rot wurde, und musste lachen. Der Mann war etwas zu schlaksig für ihren Geschmack, als dass sie ihm länger zugesehen hätte, außerdem meldete sich ihr Gewissen, dass es nicht besonders anständig war, aus dem Dunkeln heraus andere Menschen zu beobachten, doch sie fühlte sich diesen Menschen plötzlich verbunden. Zufrieden entspannte sie sich etwas und lehnte ihren Kopf zurück gegen den Badewannenrand.

Und dann summte ihr Notfallmelder, den sie achtlos auf den Tisch im Wohnzimmer geworfen hatte...

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt