14 | PALAISEAU

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Mit einem metallischen Klicken schnappte die Tankabdeckung zu und der Mann verstaute den leeren Kanister wieder in dem schmalen Fach unterhalb der Ladefläche. Er warf einen Blick auf die schräg über ihm gelegene Luke zur Steuerkabine des Schienentrucks, dann kramte er aus der Brusttasche seines Hemdes eine Packung Zigaretten hervor und zündete sich eine an. Ein erneuter Blick zur Tür. Sie sprach offensichtlich noch, also hatte er Zeit. Er trat einige Schritte zurück und lehnte sich an einen alten Signalmast, bevor er einen tiefen Zug nahm. Der Benzingeruch an seinen Fingern mischte sich mit dem Zigarettenrauch.

Palaiseau war einer der Pariser Vororte, der noch nicht ganz ausgestorben war. Ein Stück abseits der Gleise waren noch einige bewohnte Häuser und der Schein der spärlich gesetzten Laternen entlang der Verbindungsstraße nach Paris drang diffus durch die überwucherten Absperrzäune bis hinunter zum Bahndamm. Der Mann rauchte langsam, er war sich nicht sicher, wann sich die nächste Gelegenheit bieten würde, eine Zigarettenpause zu machen. Sequana hatte ihm gesagt, dass sie vermutlich die ganze Nacht durchfahren würden, um am nächsten Morgen in Camaret anzukommen. Sie hatte  nicht gesagt, warum sie dorthin fuhren, aber das war ihm auch nicht wichtig. Er hatte einen Auftrag für den sie bezahlte, mehr musste er nicht wissen. Er war nicht ohne Grund einer der besten Söldner, die man in ganz Paris anheuern konnte.

Er warf einen Blick auf den verglimmenden Stummel der Zigarette und warf diesen dann über die Schienen in die Dunkelheit hinter dem Bahndamm, dann ging er zurück zur Fahrerluke des gepanzerten Schienentrucks. Er wollte Sequana dazu bringen weiterzufahren. Er war noch nie ein Mann mit großer Geduld gewesen. Stattdessen hielt er inne, als er kurz vor der Luke das Gespräch hören konnte. Sie sprach mit einem Mann, sofern man das durch den Sprachverzerrer sicher sagen konnte. Und es ging um die Mission. Es war nicht so, dass er mehr über seinen Auftrag wissen wollte, doch etwas erregte seine Aufmerksamkeit.

Sequana sprach von einer Expedition, die sie verfolgten, und von Ninive, die offenbar so etwas wie eine wertvolle menschliche Fracht war. Und dann hörte er, wo das eigentliche Ziel der Reise lag. Er stutzte, und hätte ihn jemand in diesem Moment gesehen, die Gedanken, die durch seinen Kopf gingen, wären aus seinem Gesicht ablesbar gewesen. Er holte Luft, dann klopfte er laut gegen die Seitenwand des Trucks. Sekunden später beendete sie das Gespräch und öffnete die Luke.

„Lumière?“, fragte Sequana in die Dunkelheit.

„Ja“, entgegnete der Mann, „wir sind aufgetankt und startklar.“

„In Ordnung, doch bevor wir weiterfahren, will ich noch mit Rasmus sprechen.“ Sequana bedeutete Lumière, in den Truck zu steigen. Er folgte der Aufforderung und zog die Luke hinter sich zu. Aus der Steuerkabine führte eine weitere Luke nach hinten in den Laderaum des Trucks. Sie schlüpften nacheinander hindurch. Lumière schaltete seine Taschenlampe ein und richtete den Strahl auf den Mann, der in einer Ecke gefesselt lag.

Sequana ging zu diesem hinüber und zog seinen Oberkörper in die Senkrechte. Der Mann öffnete seine Augen und stöhnte auf. Sein Blick sagte Lumière sofort, dass er noch immer benommen von dem Betäubungsmittel war. Er fragte sich, was für ein Zeug Sequana ihm gegeben haben musste, verwarf aber den Gedanken sofort wieder, da er davon eh nichts verstand. Lumières Methodik war auf Kampftechnik und scharfe Klingen beschränkt, doch das reichte ihm, um fast jede Situation zu meistern.

„Aufwachen, Rasmus!“ Sequana hatte sich zu dem Gefangenen heruntergebeugt. „Wir müssen reden.“

„Was soll das, was willst du von mir?“, entgegnete Rasmus gereizt.

„Die Missionsparameter haben sich geändert“, teilte ihm Sequana mit und schob ihn so zur Wand des Trucks, dass er sich anlehnen konnte.

„Wenn das irgendetwas anderes bedeutet als dass du mich auf der Stelle frei lässt, dann spar dir deine Worte!“ Rasmus Riga wirkte nicht wie ein besonders standfester Mensch, aber offenbar stand er aufgrund seiner momentanen Situation so unter Schock, dass er mutige Worte den strategisch richtigen vorzog.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt